Obwohl die Zahl der Deutschen inzwischen leicht abnimmt, gehen jeden Tag 88 Hektar Land für den Bau neuer Wohnungen, Freizeitflächen, Gewerberäume und Verkehrswege verloren. Besonders im Umland der Metropolen wachsen die Gemeinden und Vororte. 90 Prozent des Flächenfraßes sind allein auf diese Siedlungen und die dafür notwendigen Straßen und Wege in die Metropolen zurückzuführen.
Zwei Gründe lassen die Menschen aus der Stadt wegziehen. In wirtschaftlich und bevölkerungsmäßig stagnierenden Metropolen wie Berlin sind zwar die Mieten nach wie vor erschwinglich, die Mittelschicht tauscht ihre Stadtwohnung aber trotzdem gern gegen das Häuschen im Grünen ein. In wirtschaftlich prosperierenden Zentren wie München oder Stuttgart verdrängen dagegen die immer weiter steigenden Mieten die ärmeren Schichten in die Peripherie.
Die Statistik spiegelt die Entwicklung wider: Zwischen 1996 und 2000 nahm der Flächenverbrauch innerhalb der Städte um 2,4 Prozent zu, im ländlichen Umland dagegen um 5,6 Prozent. Ähnlich in Frankreich, wo sich zwischen 1954 und 1990 die städtische Bevölkerung verdoppelt, die urbanisierte Fläche aber verdreifacht hat. Am schnellsten wachsen dort die Gemeinden, die im Umkreis von 25 Kilometern rund um die Zentren liegen.
Der Prozess entwickelt eine Eigendynamik. Die Menschen am Stadtrand behalten ihre Jobs im Zentrum. Da die Peripherie nur dünn besiedelt ist, lohnt sich die Anbindung an den öffentlichen Nahverkehr oft nicht. Darum bewegen sich täglich lange Autokolonnen in die Stadt hinein. Je ausgedehnter die Ballungsräume sind, desto höher der Energieverbrauch.
»Die Stadt ist mit Auto unbewohnbar, und die Peripherie ist ohne Auto unbewohnbar«, sagt der Franzose Yves Martin, ein Experte für die Klimafolgen der Dezentralisierung. Je mehr Menschen die Stadt verlassen, umso mehr werden die Zurückbleibenden verleitet, es ihnen nachzutun. Denn mit dem Wachstum der Städte verschlechtern sich die Lebensbedingungen in ihnen und der Weg ins Grüne wird immer länger, die Natur rückt in immer weitere Ferne.
Um die täglichen Pendlerbewegungen zu erleichtern, wurden bisher Ausfallstraßen und Stadtautobahnen gebaut, die neue, noch weiter von den Zentren entfernte urbanisierbare Zonen erreichbar machen. Handel, Dienstleistungen und Freizeiteinrichtungen siedeln sich zunehmend entlang dieser neuen Ausfallstraßen an, so dass die Zentren zusätzlich an Reiz verlieren.
Während in Deutschland nach der Wende auf der grünen Wiese Einkaufszentren und Siedlungen entstanden, nahmen die Brachflächen in den Innenstädten zu. Diese Dezentralisierung verursacht Zusatzkosten für öffentliche Einrichtungen. Die Ausgaben für Straßen und Wege, Müllabfuhr, Trink- und Abwasserleitungen können in dünn besiedelten Gegenden dreimal so hoch sein wie in Innenstädten. Ob in den Sprawls, den weit wuchernden Vorstädten der USA, oder in Deutschland: Die Kosten der Umlanderschließung werden auf die Allgemeinheit umgelegt. Nicht nur die Neusiedler tragen sie, sondern auch die Leute, die in den Innenstädten zurückbleiben.
Statt Autobahnen von der Stadt weit in das Land hinein zu bauen, muss man die schon erschlossene Peripherie besser nutzen. Der Nahverkehr sollte so ausgebaut werden, dass der Wohnraum in der Nähe der Vorortbahnhöfe attraktiver wird. In Karlsruhe geschieht das seit den 1970er-Jahren durch das international beachtete Stadtbahnsystem, das die Region umsteigefrei mit der Innenstadt verbindet. Die Straßenbahnen sind technisch so ausgerüstet, dass sie auch auf dem Netz der Bundesbahn fahren können.
Auch lassen sich Stadtzentrum und innerer Stadtring verdichten. Diese Verdichtung sollte besonders entlang der großen Verkehrsachsen, auf Industriebrachen, ausgedienten Kasernen und noch unbebauten Grundstücken stattfinden. Rechnerisch würden die 139.000 Hektar, die in Deutschland brachliegen, ausreichen, um den gewerblichen Flächenbedarf der nächsten zehn Jahre zu sichern.
Wohlgemerkt, verdichten bedeutet nicht, Menschen in Wohntürmen oder Häuserriegeln zusammenzupferchen, sondern meint vielmehr den Bau von kleinen Mehrfamilienhäusern und Stadtvillen: In den Niederlanden entstehen europaweit die meisten Einfamilienhäuser, während gleichzeitig die urbanen Zonen die größte Dichte aufweisen.
Um die Bewohner zum Bleiben zu bewegen, müssen die Lokalpolitiker die Lebensqualität in ihren Zentren verbessern, und zwar sowohl durch eine kluge Steuerung des Autoverkehrs als auch durch die Aufwertung alter Wohnviertel, die Begrünung des öffentlichen Raums, die Restaurierung historischer Bauten und nicht zuletzt durch Lärmschutz für die bestehenden Wohnhäuser.
Einige Kommunen machen das schon: Zwischen 1998 und 2000 hat etwa die französische Stadt Tours für 120 Familien aus der Peripherie Wohnungen im Zentrum saniert. Die südfranzösische Stadt Pau übernimmt, um das Zentrum zu dynamisieren, künftig für die Eigentümer von seit fünf Jahren leer stehenden 1600 Wohnungen und 100 Häusern die Grundsteuer. In Berlin entstehen in der östlichen Innenstadt auf der Brache des ehemaligen »Centralen Vieh- und Schlachthofes« rund 1.100 Wohnungen, Parks und etwa 230.000 Quadratmeter Gewerbefläche.
In Deutschland soll der Flächenverbrauch bis zum Jahr 2020 auf 30 Hektar pro Tag zurückgehen. Dazu hat die Bundesregierung sich in ihrer Nachhaltigkeitsstrategie von 2002 verpflichtet. Um das zu erreichen, bedarf es aber nicht nur einer klugen örtlichen Raumplanung und einer einsichtigen Politik der Stadtentwicklung. Vor allem darf die jeweilige Bundesregierung ihre eigenen Ziele nicht mit Pendlerpauschalen, Eigenheimzulagen und falschen Steueranreizen konterkarieren.
In allen großen Städten der Welt sollte die Politik den Prozess der urbanen Ausdehnung schnell stoppen, ohne erst zu warten, bis das Ende des billigen Öls den Zug in die Vorstädte von selber bremst. Denn dann werden sich viele Menschen den langen Weg in die Stadt ohnehin nicht mehr leisten können.
Jean Sivardière ist Vorsitzender des französischen Dachverbandes der Benutzer öffentlicher Verkehrsmittel (FNAUT).
Quelle:
Atlas special - Klima,
Le Monde diplomatique.
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