Die Verbindung von Lyon nach Turin bildet das Kernstück des so genannten Korridor 5, der großen europäischen Ost-West-Achse von Lissabon bis Kiew. Auf ihr sollen sowohl Güter- als auch Hochgeschwindigkeitszüge fahren. Außerdem soll sie ein Gleichgewicht zwischen Schiene und Straße herstellen – so jedenfalls sehen es ihre Befürworter. Herzstück ist ein 53 Kilometer langer, doppelröhriger Tunnel zwischen Saint-Jean-de-Maurienne in Frankreich und Venaus in Italien, der allein acht Milliarden Euro kosten wird. Nur ein kurzes Stück weiter gehört ein 12 Kilometer langer Tunnel zwischen Venaus und Bussoleno zur neuen Strecke.
Hintergrund ist der ständig zunehmende Verkehr durch die Alpen: Nach Angaben des französisch-italienischen Bau-Konsortiums Lyon-Turin Ferroviaire (LTF) ist allein der Güterverkehr von 50 Millionen Tonnen im Jahr 1980 auf 120 Millionen Tonnen im Jahr 2003 gestiegen.
Bis 2020 soll er nochmals um 80 Prozent wachsen – für die Alpenländer wahrlich keine schöne Aussicht. Sie versuchen schon heute, die schweren LKW fern zu halten. Neben Ruß und Feinstäuben blasen die Laster auch erhebliche Mengen Kohlendioxid in die Luft und tragen so zum Treibhauseffekt bei. Die Bahn schneidet beim CO2-Vergleich schon deutlich besser ab.
Insgesamt 47 Millionen Tonnen Güter rollen durch die Tunnel zwischen Frankreich und Italien (Montblanc, Mont-Cenis/Fréjus und Ventimiglia). Der übrige Transport geht durch den Tauerntunnel und den Brenner in Österreich sowie durch den Gotthard- und den Simplontunnel in der Schweiz.
Der geplante Basistunnel zwischen Saint-Jean-de-Maurienne in Savoien und Venaus im Piemont soll nach zehn Jahren Bauzeit im Jahre 2020 in Betrieb genommen werden. Zuvor müssen die beiden Röhren unter einer teils 2000 Meter dicken Felsschicht hindurchgetrieben werden, und voraussichtlich entsteht eine Schuttmenge von 20 Millionen Kubikmeter Gestein.
An der Finanzierung beteiligen sich der französische und der italienische Staat, die betroffenen Regionen Rhône-Alpes und Piemont sowie die Europäische Union. Sie alle mussten sich von Anfang an die Frage gefallen lassen, ob sich der Tunnel denn rentieren würde. Schließlich fährt auch der Eurotunnel zwischen Frankreich und England seit Jahren Verluste ein, und der hat nicht einmal Konkurrenz. Die Verbindung Lyon–Turin dagegen muss sich mit den Tunnelprojekten in Österreich und der Schweiz vergleichen.
Der 36 Kilometer lange Lötschberg-Basistunnel auf der Achse Bern-Mailand wurde bereits im Juni 2007 in Betrieb genommen. Der neue Gotthardtunnel zwischen Zürich und Mailand wird 57 Kilometer lang und soll 2016 fertig sein. Nur einen Kilometer kürzer wird der neue Brennertunnel zwischen Österreich und Italien, der zwischen 2015 und 2018 in Betrieb gehen soll.
Lyon-Turin wird auch gebaut, um den Straßenverkehr zu entlasten. Drei Viertel des Güterverkehrs zwischen Frankreich und Italien werden zurzeit über die Straße abgewickelt. Deshalb begrüßen die meisten Verbände und Politiker den Tunnel – vor allem in Frankreich, wo sich auch die Grünen generell für die Bahn einsetzen.
Doch auf der anderen Seite der Alpen sind viele Menschen gegen den Tunnel. Sie fürchten, der Tunnelbau könnte asbesthaltige und uranhaltige radioaktive Gesteine zutage fördern.
Nach Angaben der Tunnel-Gegner wollte man entlang der Tunnelroute nach dem Zweiten Weltkrieg noch Uran für Kernkraftwerke abbauen. In den alten Probeschächten liege die Strahlung immer noch tausendmal so hoch wie im Rest des Tales. Für die Zwischenlagerung des Asbestaushubs sei unter anderem ein Gelände neben einem Sportplatz ausgewiesen worden. Und da im Susatal ständig ein kräftiger Wind wehe, könnte krebsauslösender Asbeststaub bis nach Turin geblasen werden.
Die Regierung Berlusconi hat den Tunnel per Gesetz durchpeitschen wollen – und damit die Gemüter nur noch weiter erhitzt. Inzwischen hat der neue italienische Ministerpräsident Romano Prodi Druck aus der Sache herausgenommen, indem er das Gesetz annullierte und eine öffentliche Befragung durchführen lässt.
Die Gefahr, dass gesundheitsschädlicher Staub an die Oberfläche befördert wird, ließe sich durch den Ausbau der bestehenden Strecke bannen. Während ein Großteil der Tunnelgegner genau diese Lösung befürwortet, wäre den italienischen Grünen auch das nicht recht. Sie lehnen infrastrukturelle Großprojekte generell und kategorisch ab.
Stattdessen sprechen sie sich für eine allgemeine Verringerung des Güterverkehrs und für lokales Wirtschaften aus. Auch wenn sich letztlich alle Beteiligten den Umweltschutz auf die Fahnen geschrieben haben – die Wege dorthin sind so verzweigt und gewunden wie das Netz der europäischen Eisenbahnen.
Chantal Aubry ist Journalistin, Autorin von »Deltas du monde«, Paris (La Martinière) 2004.
Quelle:
Atlas special - Klima,
Le Monde diplomatique.
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