Das US-Militär war nach der Besetzung des Irak auf einen lang anhaltenden Untergrundkampf nicht vorbereitet. Erst nach einiger Zeit ist es dazu übergegangen, seine im Irak stationierten Kräfte neu zu gruppieren.
Nachdem die offiziellen Verluste bis Mitte 2006 auf mehr als 2.500 tote US-Soldaten angestiegen sind, hat man die Idee aufgegeben, das gesamte irakische Territorium permanent zu kontrollieren. Seitdem beschränkt man sich darauf, das »sunnitische Dreieck« und andere besonders aufständische Regionen, insbesondere den westlichen Grenzstreifen zu Syrien, regelmäßig mit gezielten, aus der Luft unterstützten Schlägen anzugreifen.
Nach solchen Aktionen kehren die US-Soldaten in ihre Stützpunkte zurück, die zu wahren Garnisonsstädten angewachsen sind.
Die eigenen Verluste sollen vor allem dadurch verringert werden, dass immer weniger US-Soldaten in den Städten patrouillieren und operieren. Denn auch die Aufständischen haben mit der Zeit ihre technischen Fähigkeiten verbessert.
Sie operieren mit stärkeren Sprengstoffen und vor allem mit ferngesteuerten Bomben, wie sie in den 1990er-Jahren von der Hisbollah im Südlibanon eingesetzt wurden. Diese Entwicklung kam für den US-Generalstab überraschend und hat den Amerikanern schwere Verluste an Menschen und Material zugefügt.
Angesichts des wachsenden Drucks der Öffentlichkeit beginnt man in Washington, eine schrittweise Reduzierung der 150.000 im Irak eingesetzten Soldaten ins Auge zu fassen. Einige Verbündete reduzieren bereits ihre Truppenkontingente oder haben dies angekündigt.
Im Oktober 2005 hat US-Außenministerin Condeleezza Rice bei einer Anhörung des außenpolitischen Ausschusses des US-Senats die Irakpolitik Washingtons mit der Formel gekennzeichnet: »Säubern, halten und aufbauen«. Die Erfüllung dieser Aufgaben kann nach Einschätzung hoher Offiziere die Präsenz der US-Armee noch »über Jahre« erforderlich machen.
Auch die erhoffte Übernahme der Verantwortung durch die irakischen Sicherheitskräfte wird sich über eine längere Periode hinziehen. Solange der irakische Sicherheitsapparat die Lage nicht in den Griff bekommt, werden die amerikanischen und britischen Truppen im Lande bleiben. Bislang haben die irakischen Sicherheitskräfte das erforderliche Niveau nicht erreicht.
Und nach Einschätzung des Pentagon soll die Qualifikation der rekrutierten Polizisten miserabel sein. Schlimmer noch: Armee und Polizei sollen von Aufständischen oder feindlichen Elementen infiltriert sein. Das gilt auch für die britische Besatzungszone im schiitischen Süden des Landes.
In dieser Situation will die US-Regierung den Wettlauf mit der Zeit auf der politischen Ebene gewinnen. Die Wahlen im Januar 2005 haben die Einberufung einer verfassunggebenden Versammlung ermöglicht, in der Schiiten und Kurden die Mehrheit haben.
Nach dem Referendum vom 15. Oktober 2005 ist die neue Verfassung in Kraft getreten. Sie schafft einen föderalen und dezentralisierten Irak und gewährt den Provinzen weitgehende Autonomie, was die Zentralregierung schwächt.
Dieser politische Überbau steht allerdings auf unsicherem Fundament, was sowohl für die fragile Parteienkonstellation als auch für die innere Sicherheit gilt. In dem Parlament, das aus den Wahlen vom 15. Dezember 2005 hervorgegangen ist, sind die sunnitischen Araber zwar stärker repräsentiert, doch wurden sie durch die weitere politische Entwicklung enttäuscht.
Sie fühlen sich nicht zu Hause in einem Staat, der auf konfessioneller und ethnischer Grundlage errichtet ist und von dem sie glauben, dass er zur Auflösung des Irak führen wird.
Die Kurden versuchen, ihren Autonomiestatus noch stärker auszubauen, während bei den Schiiten, zumal bei jenen im Süden des Landes, ebenfalls die Neigung besteht, sich von Bagdad loszusagen. Und Kurden wie Schiiten wollen natürlich von den Profiten aus den Ölfeldern, die auf ihrem Gebiet liegen, möglichst viel für sich behalten.
Das von der Regierung in Washington erträumte Szenario von einem Staat, indem sich die rivalisierenden Volks- und Religionsgruppen auf dem Boden einer demokratischen Verfassung begegnen, während der Aufstand von irakischen Sicherheitskräften und nicht mehr von anglo-amerikanischen Truppen niedergeschlagen wird, kann man wahrscheinlich ins Reich der Illusionen verweisen.
Die USA bezahlen heute für die – vermeidbaren oder unvermeidlichen – Fehler, die sie bereits mit ihren ersten Schritten auf mesopotamischem Boden begangen haben: Indem sie die Armee und die Sicherheitsdienste des alten Regimes auflösten, den Plünderungen tatenlos zusahen und die Grenzen öffneten, haben sie selbst die Bedingungen geschaffen, die ihnen nun zum Verhängnis geworden sind.
Christian Chesnot ist Journalist bei France-Inter und Koautor (zs. mit Georges Malbrunot) von »Mémoires dotages. Notre contre-enquête«, Paris (Calmann-Lévy) 2005.
Quelle:
Atlas der Globalisierung,
Le Monde diplomatique.
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