Kapitalstrom in die falsche Richtung

In den 1980er-Jahren kam die Schuldenkrise, dann die Flucht der Banken: Mehr als ein Jahrzehnt lang haben die meisten Entwicklungsländer auf den internationalen Finanzmärkten keine neuen Kredite mehr bekommen. In dieser Zeit finanzierte die Dritte Welt die Erste. Jetzt gibt es wieder Geld – und neue Abhängigkeiten. Eine kurze Geschichte der Nord-Süd-Zahlungsbilanz.

Drei Komponenten

Die privaten internationalen Kapitalströme setzen sich aus drei Komponenten zusammen.

Bankkredite haben festgelegte Laufzeiten und Rückzahlungsbedingungen.

Ausländische Direktinvestitionen – Firmenneugründungen oder -beteiligungen – stellen recht stabile und reale Formen der Anlage dar.

Portfolio- Investitionen schließlich, die Wertpapiere wie Aktien und Staatsanleihen umfassen, sind handelbar und unterliegen oft großen Schwankungen in Kurswert und grenzüberschreitendem Handelsvolumen.

Eine vierte Finanzquelle ist die öffentliche Entwicklungshilfe. Die Struktur der Kapitalbewegungen in die Entwicklungsländer hat sich im Lauf der Zeit drastisch gewandelt.

Die reichen Länder ziehen die meisten Ausländischen Direktinvestitionen an
Foto: © Le Monde diplomatique

Staatsanteil am Kapitalzustrom sank

Vor dem 1. Weltkrieg floss vor allem privates Kapital aus den Industriestaaten in ihre Kolonien. Es folgten bis in die 1970er-Jahre in erster Linie öffentliche, also staatliche Gelder.

Das Recycling der Petrodollars über das westliche Bankensystem sorgte dann dafür, dass wieder die privaten Kapitalströme anschwollen: Die Banken wurden mit den bei ihnen untergebrachten Profiten aus dem Ölgeschäft zu den großen Geldgebern der Entwicklungsländer.

Zu zwei Dritteln handelte es sich dabei um Darlehen für den öffentlichen Sektor – das Geld floss in den Staatshaushalt oder die Staatsbetriebe, die mit der Entkolonialisierung entstanden waren. Von den 1970er- bis in die 1990er-Jahre sank der Staatsanteil am Kapitalzustrom von 15,5 auf 6,4 Prozent.

Kein Zugang für Entwicklungsländer zu Krediten

Die große Krise begann in den 1980er-Jahren. Kredite wurden teurer, weil die Zinsen stiegen. Der Nettokapitalstrom drehte, die Finanzquellen versiegten, und die Rückzahlung der Kredite musste aus eigenen Ressourcen erfolgen.

Diese paradoxe »Hilfe« der Dritten Welt für die Industriestaaten hat für die große Mehrheit der Bevölkerung in den Entwicklungsländern, vor allem in Afrika und Lateinamerika, katastrophale Folgen.

In dieser Zeit zeigte der globale Finanzsektor seinen parasitären Charakter in neuen Formen. In den frühen 1990er-Jahren war dann für Entwicklungsländer – von einzelnen Ausnahmen in Asien abgesehen – der Zugang zu Krediten praktisch blockiert.

Rettung in der Krise - durch mehr Schulden
Foto: © Le Monde diplomatique

Rückgang von Neuausleihungen der Banken

Zwei Gründe waren dafür ausschlaggebend. Die internationalen Märkte entwickelten neue Finanzprodukte, mit denen sie die alten Staatsschuldpapiere, auf denen die Banken saßen, mit Abschlägen handelbar machten. So wurden die Kapitalmärkte gesättigt: Sofern noch ein Investor Interesse an der Dritten Welt hatte, kaufte er bei den Banken Altkredite auf, die mit der Zahlungsfähigkeit der Länder an Wert gewannen oder verloren.

Das war leichter, als einzelne neue Papiere direkt nachzufragen und damit die Kapitalversorgung wieder in Gang zu bringen.

Zugleich führten die Banken ihre Neuausleihungen an die Entwicklungsländer drastisch zurück. Während zwischen 1973 und 1981 durchschnittlich 66 Prozent der internationalen Zahlungen aus dem Banksektor kamen, fiel dessen Anteil zwischen 1990 und 1997 auf 11,7 Prozent – und dieses Geld floss vor allem nach Asien.

Zunehmend Kredite für die Entwicklungsländer

Von den großen Privatisierungen angelockt, nahmen dann in der zweiten Hälfte der 1990er-Jahre die Direktinvestitionen wieder zu, vor allem in den Schwellenländern des Fernen Ostens und Lateinamerikas sowie im südlichen Afrika.

Im Zuge der Rubel- und Asienkrise und großer Umschuldungen in Lateinamerika zogen sich die Banken wiederum für einige Jahre aus dem Kreditgeschäft zurück, aber derzeit fließt mehr als dreimal so viel Kapital in die Entwicklungsländer wie noch 1990.

Investmentfonds zweitwichtigste Geldgeber

Statistisch gesehen scheinen die Wertpapierinvestitionen, also solche in Aktien und Anleihen, eine Nebenrolle zu spielen.

Es handelt sich dabei jedoch um Nettobeträge, also Einzahlungen minus Auszahlungen, hinter denen sich enorme Bruttosummen verbergen können. Das Problem stellt sich vor allem für die Investmentfonds, die immer bedeutsamer geworden sind und wegen ihrer Abhängigkeit von Wechselkursen und Zinsen ein heftiges spekulatives Auf und Ab auslösen können.

Nach den Direktinvestoren bilden sie inzwischen die zweitwichtigste Gruppe der Geldgeber.

Angespannte Finanzlage

Die enorme Schwankungsbreite der Aktienkurse erhöht die finanzielle Anfälligkeit der Empfängerländer um ein Vielfaches. Angesichts der angespannten Finanzlage steigen die Risikoprämien – die Zinssätze für Kapitalaufnahme, Handelskredite usw. – überproportional.

Zugleich fördern die Schuldenkrisen die Bereitschaft der Regierungen, sich den Forderungen des IWF zu unterwerfen.

Auf den ersten Blick ist der Weg über den IWF die kostengünstigere Variante, da die Kreditzinsen niedrig sind. Doch ein IWF-Darlehen ist nicht »billig«: Die Wirtschaftspolitik des Schuldnerlands muss sich an rigide Vorgaben halten – Rückzahlung um jeden Preis – und in Kauf nehmen, dass dies die Wirtschaft womöglich ruiniert und für die Bevölkerung äußerst negative Folgen hat.

Autor: Pierre Salama

Pierre Salama ist Professor an der Universität Paris XIII und Herausgeber der Zeitschrift Tiers monde; er ist Autor (zs. mit Blandine Destremau) von „Mesures et démesure de la pauvreté“, Paris (PUF) 2001.

Mehr Informationen zu dem Thema:

World Development Report 2005

F&D, Zeitschrift des IWF

OECD

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Quelle:
Atlas der Globalisierung,
Le Monde diplomatique.

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