Doch welche Formen der Interpretation, welche Genres der Erklärung für weiträumige historische Prozesse taugen, darüber ist nur selten etwas zu erfahren. Dabei lässt sich aus den rhetorischen Figuren, aus der Art der Erzählung, aus der Struktur der Betrachtung über die Globalisierung auch ein Merkmal der Globalisierung selbst herauslesen.
So ist es gerade die Eindeutigkeit, die zu den eindeutigsten Verlierern der Globalisierung gehört. Vermeintlich zweifelsfreie Behauptungen oder einfache Gewissheiten sind seltsam stumpf und fragwürdig geworden. Der Gestus der analytischen Sicherheit wirkt befremdlicher denn je. Ironischerweise taugt ausgerechnet die Globalisierung nicht zur globalen Analyse.
Allgemeine, universale Urteile zielen an der komplexen Wirklichkeit vorbei. Es gibt kaum eine Interpretation der politischen, ökonomischen, sozialen Dynamiken der Globalisierung, die nicht zur Differenzierung genötigt wäre;
kaum eine Einschätzung der Vorzüge, die bestimmte Regionen oder Staaten genießen, ohne Hinweis auf die Nachteile für einzelne Landesteile, die davon ausgeschlossen sind;
kaum eine Betrachtung der Verluste, die gewisse Bevölkerungsgruppen erleiden müssen, ohne Einschränkung, der Norden kann nicht gegen den Süden, Männer können nicht gegen Frauen, Bauern nicht gegen Städter verrechnet werden.
Immer gibt es Ausnahmen von der Regel, Widersprüche im System, Paradoxien in der Logik der Entwicklung. Die intellektuellen wie geografischen Landkarten der Globalisierung können nicht einfach nur internationaler, sie müssen vor allem präziser und kleinteiliger werden.
Vielleicht hat die verengte Perspektive auf die ökonomische Ebene der globalisierten Welt diese Erkenntnis verzögert. Bei aller analytischen Tiefenschärfe, mit der man die finanzwirtschaftlichen Zusammenhänge zu erfassen suchte, blieb der Blick auf die Brechungen in den analytischen Instrumentarien selbst verschwommen.
In ideologiekritischer Hinsicht ist die Ambivalenz der große Gewinner der Globalisierung. Darin spiegelt sich zugleich die Textur der veränderten Welt. Alle Fantasien von »Reinheit« zerschellen an einer Wirklichkeit, die sich vor allem durch die dichte Verflechtung, die wechselseitige Abhängigkeit der einzelnen Teile auszeichnet.
Was miteinander verbunden ist, verändert sich. Ob Waren, Wissen oder Menschen ausgetauscht werden, ob vornehmlich exportiert oder vornehmlich importiert, ob aus- oder eingewandert, ob gespendet oder geliehen wird, niemals bleibt eine Seite unbeteiligt und unberührt. Wenn weder territoriale noch symbolische Grenzen geschlossen sind, wenn sie vielmehr diesseits und jenseits bespielt werden, dann lösen sich dieses Diesseits und Jenseits selbst schrittweise auf.
Ganz gleich wie asymmetrisch das Verhältnis sein mag und wie ungleich die Kräfte sein mögen, die aufeinanderstoßen, immer wandeln sich beide Seiten durch die Begegnung. Manchmal treten diese Mischungen nur an den Rändern einer Gesellschaft, manchmal nur in der Elite eines Landes auf. Manchmal werden die Fusionen in architektonischen Veränderungen sichtbar, manchmal in kulinarischen.
In jedem Fall verliert sich die frühere Homogenität in einem neuen Amalgam aus Fremdem und Eigenem. Hybridität ist das Format der Globalisierung – ob in kultureller, ethnischer oder biologischer Hinsicht. Die bewusste oder unbewusste Vermischung durchdringt alle Orte und Gesellschaften, wenngleich nicht mit demselben Tempo.
So entstehen verschiedene Zeit- und Erfahrungsschichten in derselben Region, lagern sich Sedimente traditioneller Praktiken und Überzeugungen noch ab, wo zugleich schon das Modernere durchbricht. Es wird adaptiert, nicht einfach mehr assimiliert. Künstlerische Motive und Bilder werden zitiert und verschoben, kulturelle und ästhetische Vorbilder werden nicht nur vererbt, sondern verwandelt.
Diese kulturelle Bastardisierung bedeutet zunächst einmal vielerorts eine Befreiung von autoritärer Bevormundung. Sie begünstigt ein Aufbrechen rassistischer oder ästhetischer Normierungen.
In der Verschiedenartigkeit der angebotenen Identitäten oder Identifikationen, der Vielfalt der kulturellen, sexuellen oder religiösen Praktiken und Überzeugungen werden alle jene erlöst, die vorher als abweichend oder abnorm dem Zwang und der Gewalt einer autoritären Monokultur ausgeliefert waren.
Diese bereichernden Momente der Bastardisierung zeigen sich auch in der Medienlandschaft und hier in dem sich wandelnden Verhältnis von Laien zu professionellen Akteuren: Der journalistische Mainstream, der sich in den eigenen Ausbildungsinstitutionen und Handwerkskonventionen verschanzt, wird zunehmend karikiert und korrigiert durch die Blogs der Laien, die wiederum in Foren und Links integriert und von ihnen vereinnahmt werden.
Doch in der Hybridität liegt auch eine Bedrohung, wenn sie nur eine weitere Form der Vereinheitlichung bedeutet. Wenn Bastardisierung zur neuen marktwirtschaftlichen Norm wird, geht dies wiederum auf Kosten mancher Unterschiede und Eigenheiten, die der kulturellen Vielfalt überhaupt erst ihre Bedeutung verleihen. Am Beispiel der Zerstörung der biologischen Diversität ist diese Gefahr am erschreckendsten sichtbar.
Erst wenn Dissens und Kritik gleichermaßen dynamisch sich entwickeln, wachsen mit der Globalisierung auch die Mittel, sie zu gestalten. Dazu müsste auf der juristischen Ebene ebenso zitiert und adaptiert werden, müssten Rechtsstatuten einerseits universaler werden und gleichzeitig in Anwendungsdiskursen lokal angeeignet werden.
Ein erfolgreiches Exempel für diese kritischkonstruktive Praxis sind Rechtsbegriffe wie der »prior, free and informed consent«, der mittlerweile indigenen Gruppen weltweit Unterstützung im Kampf gegen lokale oder internationale Umweltvergehen bietet. Wenn schließlich auch noch die Hybridität selbst ambivalent betrachtet wird, dann wird die Globalisierung auch als ein politischer Prozess verstanden werden, den wir bestimmen und verändern können, so wie er uns bestimmt und verändert.
Carolin Emcke arbeitet als Redakteurin beim »Spiegel«. Sie ist Autorin von »Von den Kriegen. Briefe an Freunde«, Frankfurt/Main (Fischer) 2004.
Quelle:
Atlas der Globalisierung,
Le Monde diplomatique.
© 2006
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