Während die Einigung Europas weiter vorankommt, geraten einige Nationalstaaten unter einen gefährlichen Druck: Ein regionales Identitätsbewusstsein – wie etwa in Norditalien, Schottland und im Baskenland – erwacht und wird zum Vorreiter einer stärkeren Dezentralisierung und Regionalisierung. Im Extremfall fordern solche Strömungen etablierte Staaten mit Sezessionsforderungen heraus.
Der Begriff Nation definiert eine gewachsene Solidargemeinschaft, deren Mitglieder ohne Ansehen ihrer ethnischen Abstammung oder gesellschaftlichen Position zusammenleben.
Nationen mögen unter Zwang entstanden sein, doch sind sie bis heute der einzige Rahmen, der auch bei heterogenen Bevölkerungsgruppen das Prinzip der Risikoteilung und der Solidarität (insbesondere über die Umverteilung der Einkommen) zu gewährleisten vermag.
Der Machtzuwachs der EU, und mehr noch die den Einigungsprozess begleitenden hochfliegenden Reden erzeugen die Erwartung, Europa könne als neue Solidargemeinschaft an die Stelle der – als zu eng empfundenen – Nation treten.
Dabei dürfte allerdings, wenn die Logik des Geldes alles bestimmt, das Solidarprinzip auf der Strecke bleiben. Nehmen wir als Beispiel die öffentlichen Sozialabgaben.
Im Durchschnitt verschlingen die öffentlichen Haushalte der europäischen Länder mehr als 50 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP), während für den Haushalt der Europäischen Kommission lediglich 1,4 Prozent des europäischen BIP aufgewendet werden – und dennoch drückt dieser schwächliche europäische Überbau die starken Nationalstaaten an die Wand.
Warum sollte in einem integrierten Europa ein Katalane weiterhin einen Andalusier subventionieren, wo dieser Katalane doch ärmer ist als sein Nachbar und Konkurrent aus Languedoc-Roussillon, der seinerseits von Paris subventioniert wird. Die Schaffung von Euroregionen trägt somit dazu bei, nationale Solidarstrukturen in Frage zu stellen.
Die mehr oder minder authentische Neubelebung regionaler Identitäten, ermöglicht durch die Schwächung des Nationenbegriffs, fördert zwei einander verstärkende, regionale Konflikttypen: erstens den »pränationalen« Konflikt, der in Regionen entsteht, wo alte Vorbehalte gegen den Anschluss an eine Nation existieren – etwa in Korsika, Nordirland oder Schottland. Diese Regionen haben sich, ob reich oder arm, dagegen zur Wehr gesetzt, dass ihre spezifische Identität in einer Nation aufgehen sollte.
Der »postnationale« Konflikt hingegen entsteht in der Regel in wohlhabenden Regionen, die Nettozahler im nationalen Steueraufkommen sind, und die – unter Berufung auf eine mehr oder weniger ausgeprägte regionale Identität – ihre Verbindung zur Gesamtnation auflösen bzw. einschränken und sich von der »Solidarfessel« befreien wollen. Beispiele für einen solchen Wohlstands-Separatismus sind das belgische Flandern, das norditalienische »Padanien«, das Baskenland und Katalonien.
Regionaler Konflikt ist jedoch nicht gleichbedeutend mit Bürgerkrieg oder Sezession. Häufig dominiert der Wunsch, die interregionale Solidarität durch Föderalisierung (Belgien) oder stärkere Regionalisierung (Italien, Spanien) einzuschränken und sich insbesondere den Zugriff auf die Steuern zu sichern.
Die nächsten Jahre werden vermutlich im Zeichen solcher regionalen Egoismen stehen, die sich vor allem in reicheren Regionen von Ländern regen, die sehr arme Regionen durchfüttern müssen.
Dabei sind die reicheren Regionen dreifach gefordert:
Erstens müssen sie konkurrenzfähig gegenüber den in vielen Fällen reicheren europäischen Nachbarregionen bleiben.
Zweitens müssen sie als Wachstumsmotoren ihrer Länder funktionieren und die Konvergenz zwischen den Volkswirtschaften der Europäischen Union gewährleisten.
Drittens müssen sie für umfangreiche Transferleistungen in die ärmeren Regionen ihrer Länder aufkommen.
Womöglich zeichnet sich hier die strukturelle Ursache für eine künftige Fragmentierung Europas ab. Das wäre womöglich ein Europa ohne die Merkmale und Vorzüge der nationalen Solidargemeinschaft – was wiederum weitere regionalistische Abkapselungstendenzen begünstigen würde.
Philippe Leymarie ist Journalist bei Radio France internationale.
Centre de documentation et de recherche sur la paix et les conflits
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Quelle:
Atlas der Globalisierung,
Le Monde diplomatique.
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