Die Mitglieder der politischen Klasse haben fast alle einen unsentimentalen und rücksichtslosen Charakter entwickelt. Vor 475 Jahren hat Niccolò Machiavelli seinem »Principe« beigebracht, dass er alles daransetzen müsse, seine fürstliche Macht zu erhalten, andernfalls müsse er abtreten. In ähnlicher Weise geht es auf dem Feld der Geopolitik vornehmlich darum, dass der eigene Staat mächtiger, reicher und gefürchteter ist als andere Staaten.
Carl von Clausewitz hat diesen Grundsatz so ausgedrückt: »Der Krieg ist ein Akt der Gewalt, um den Gegner zur Erfüllung unseres Willens zu zwingen.« Clausewitz bemerkte aber auch, der Krieg dürfe stets nur das letzte Mittel sein, da es viele andere Mittel gebe, um dem Gegner seinen Willen aufzuzwingen. Die meisten dieser Mittel werden dem Leser auf den folgenden Seiten begegnen.
Was ihm auch begegnen wird, sind die gewollten wie die ungewollten Folgen des rücksichtslosen Drangs nach Reichtümern, nach Macht und nach der Fähigkeit, Angst und Schrecken zu verbreiten. General de Gaulle hat einmal gesagt: »Staaten haben keine Freunde, sondern nur Interessen.«
Und eine andere Figur aus der Galerie der einschlägigen Autoritäten, Friedrich Nietzsche nämlich, hat einmal gesagt: »Staat heißt das kälteste aller kalten Ungeheuer. Kalt lügt es auch; und diese Lüge kriecht aus seinem Munde: ›Ich, der Staat, bin das Volk.‹«
Die klassische Strategie in der Konkurrenz um die Macht ist dennoch die, von der Clausewitz unbedingt abgeraten hat: der Krieg. Auf vielen Seiten dieses Atlas wird er mit all seinen unvermeidbaren Begleiterscheinungen dokumentiert, einschließlich des militärischen Herrschaftsinstrumentariums, das ihn nach wie vor begleitet und vorbereitet: Militärstützpunkte und Kriegsflotten sowie die Druckmittel, die von der politischen Einkreisung bis zur Bildung militärischer Blöcke reichen.
Gewaltige Profite wirft auch der Handel mit Drogen und jungen Frauen ab. Der blühende Drogenmarkt zeigt, dass die USA mit ihren Programmen zur Eliminierung des Anbaus von Drogenpflanzen praktisch gescheitert sind – es gelangen heute mehr Drogen auf den Markt als je zuvor. Da das Gesetz von Angebot und Nachfrage nicht auf die legale Ökonomie beschränkt ist, bewirken die vielen Anbieter auf dem Drogenmarkt einen rapiden Preisverfall. Was den Handel mit Sexsklaven- und -sklavinnen betrifft, so fällt hier auf, dass als Lieferländer auch Staaten verzeichnet sind, die zu den Kandidaten für eine EU-Mitgliedschaft zählen.
Die größte Veränderung der letzten 25 Jahre, die sich in den Karten und Diagrammen des folgenden Abschnitts niederschlägt, ist die Erschütterung des Ostblocks und der Zusammenbruch des Sowjetimperiums. Bildlich erfassbar zu machen, wie die Welt heute aus der Perspektive Moskaus und Osteuropas aussieht, ist ein überaus sinnvolles Unterfangen. Überhaupt bietet der Atlas auf vielen Gebieten einen neuen Blick auf politische Prozesse; das gilt etwa für die »farbigen« Revolutionen in Ländern der ehemaligen Sowjetunion wie Georgien und der Ukraine.
Problematisiert wird auch die Behauptung, dass den Übeln dieser Welt durch das Wundermittel der Ausländischen Direktinvestitionen (ADI) abgeholfen werden könne. Die These scheint sich zu bestätigen, wenn man sieht, wie wenig ADI nach Afrika fließen. Aber wenn man dann andere Karten betrachtet, erscheinen solche Investitionen weniger als Segen denn als Fluch.
Das gilt etwa für die Darstellung der tentakelhaften Ausbreitung des US-Kaufhauskonzerns Wal-Mart, der zugleich der größte und womöglich übelste Arbeitgeber der Welt ist, oder angesichts der zunehmenden Konzentration im Bereich der Medien und IT-Konzerne.
Wo Elefanten kämpfen, wird das Gras zertrampelt, so ein afrikanisches Sprichwort. Heute müssen sich immer mehr Einwohner dieser Erde wie Grashalme vorkommen, die zur falschen Zeit am falschen Platz wachsen. Gleichzeitig wird die expandierende Europäische Union immer attraktiver für die vielen Menschen, die den so genannten failed states etwa in Afrika entkommen wollen. Eine ähnliche Magnetwirkung hat nach wie vor der American Dream für die weiter wachsende Anzahl der Armen.
Dabei machen die reichen Länder diesen Armen das Leben noch schwerer. Sie haben zum Anwachsen der Schuldenberge beigetragen und zugleich die Entwicklungshilfe auf ein Minimum beschränkt, wobei sie ihre Leistungen zumeist noch an wirtschaftspolitische Bedingungen knüpfen.
Sie haben für die Exportgüter der gefesselten Länder des Südens zu wenig gezahlt, sie haben Finanzkrisen zugelassen, die viele dieser Länder in den Ruin trieben. Sie haben immer wieder korrupte Regime unterstützt. Und angesichts dieser Bilanz gibt sich der Westen überrascht, wenn zehntausende verzweifelter Boat people an seinen Küsten landen und die Flüchtlingsmassen derart zunehmen, dass die Mittel der Hilfsorganisationen nicht mehr ausreichen.
Und wie steht es mit den Organisationen, die dieses Chaos beaufsichtigen sollen und denen es manchmal sogar gelingt, für Linderung zu sorgen? Die UN-Flüchtlingsorganisation UNHCR bemüht sich redlich, einigen der Menschen zu helfen, die durch unkontrollierbare geopolitische Kräfte und Prozesse aus ihrer Heimat vertrieben wurden.
Die Vereinten Nationen hingegen schaffen es gerade noch, den Kopf über Wasser zu halten, wobei sie sich vor allem der Bemühungen der USA zu erwehren haben, die nicht nur ihre Mitgliedsbeiträge zurückhalten, sondern auch die Macht und die Legitimation der Weltorganisation zu beschneiden versuchen.
Der geopolitische Teil dieses Atlas bietet jedoch auch einige sehr ermutigende Informationen. Lateinamerika war früher ein hoffnungsloser Subkontinent, der vornehmlich Militärdiktaturen auszubrüten schien, die in aller Regel vom großen Nachbarn im Norden unterstützt wurden.
Heute bietet die politische Landkarte Lateinamerikas ein ganz anderes Bild: Es dominieren die hoffnungsvollen Rottöne als Symbol für die Wahlsiege linker Parteien oder gemäßigt linker Kräfte, die sich innerhalb von nur fünf oder sechs Jahren durchgesetzt haben. Eine weitere Karte zeigt die rasche Verbreitung von Nichtregierungsorganisationen (NGOs), von denen manche eine sehr ambivalente Rolle spielen, viele jedoch für große Hoffnungen und Versprechen stehen. Eine solche Hoffnung sind vor allem auch die Aktivitäten der Sozialforen, deren Erfolg vor zehn Jahren noch völlig unvorstellbar war.
Womöglich werden wir, je mehr wir über die geopolitischen Entwicklungen wissen, nur noch pessimistischer gestimmt. Aber wenn wir die hier aufgeführten Daten genauer betrachten, können wir auch entdecken, dass Geld und Macht nicht immer das letzte Wort behalten. Und dass die Menschen, wenn sie sich zusammentun, die Landkarte ihrer Region, ja ihres Kontinents – und damit ihr Leben – auch von unten verändern können.
Susan George ist stellvertretende Direktorin des Transnational Institute in Amsterdam und Vizepräsidentin von Attac Frankreich. Sie publizierte zahlreiche Bücher, zuletzt »Change it! Anleitung zum politischen Ungehorsam«, München (Droemer) 2006.
Erster Artikel: Das Ende der Blöcke
Quelle:
Atlas der Globalisierung,
Le Monde diplomatique.
© 2006
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