Noch vor gar nicht so langer Zeit galt die Sahara als aufregendes Neuland für Abenteurer aller Art. Wüstentourismus und Rohstoffextraktion waren angesagt, wo einst Hungersnöte und Heuschreckenschwärme herrschten. Von der Rallye Paris–Dakar über das sagenumwobene Timbuktu bis zu den Wüstentouren im tschadischen Tibesti reichten die Verlockungen, vom Öl Mauretaniens über das Gold Malis bis zum Uran in Niger und Tschad.
Davon ist wenig geblieben. Die Sahara und die angrenzende Sahelzone ist heute Front in den Kriegen gegen den Terror und im Abwehrkampf gegen ungewollte Migration. Selbst für die eigene Bevölkerung sind weite Zonen zu unsicher. Islamistische Rebellen in Mali und Burkina Faso, die Ausweitung der Boko-Haram-Rebellion aus Nigeria in die Nachbarländer Niger und Tschad, die Lastwagenkarawanen mit Flüchtlingen über Agadez und Tamanrasset – aus europäischer Sicht steckt die Region heute nicht mehr voller Chancen, sondern voller Gefahren, und die Regierungen sind von dem Bedürfnis der Bevölkerung nach Sicherheit und einem halbwegs normalen Leben überfordert. Militarisierung ersetzt Investitionen, Grenzen und Sperrgebiete behindern Handel und kulturellen Austausch.
Die grenzüberschreitende Gewalt und Instabilität in der Sahelzone hat mehrere, ursprünglich voneinander unabhängige Faktoren. Diese müssen einzeln analysiert werden, um sie in ihrer jeweils eigenen Dynamik zu verstehen. Aber erst ihr Zusammentreffen – geografisch wie politisch – hat in den vergangenen Jahren die Konflikte in einer Weise potenziert, dass sie kein Akteur allein in den Griff bekommen kann.
Der erste Faktor ist der militante Islamismus. Anders als viele oberflächliche Analysen suggerieren, ist er kein neues Phänomen, das erst mit 9/11 oder gar dem Sturz des Gaddafi-Regimes in Libyen in Erscheinung getreten wäre. Der Islam in der nördlichen Hälfte Afrikas kennt unzählige unterschiedliche Traditionen, von individueller Andacht bis zum territorialen Herrschaftsanspruch. Die Rückzug des Einzelnen und ganzer Clans und Gemeinschaften auf eine rigorose Interpretation religiöser Pflichten ist vielerorts ein bewährtes Ausdrucksmittel gegen koloniale Fremdherrschaft und postkoloniale Diktaturen. Mit saudischem Geld und radikalen Predigern entwickelte sich daraus bereits in den 1980er Jahren politische Militanz, ohne dass dies eindimensional auf eine bestimmte islamistische Ausprägung oder eine bestimmte auswärtige Einflussnahme reduziert werden darf.
Den Griff zur Waffe aus religiösen Gründen wagten bereits in den frühen 1980er Jahren in Nigeria die Anhänger des kamerunischen Predigers Mohammed Marwa, genannt »Maitatsine« (der Verurteilende). Aus der Subkultur dieser religiösen Gemeinschaften, die sich vom säkularen nigerianischen Staat und seinen Institutionen, vor allem den Schulen, lossagten, ging später die Aufstandsbewegung »Boko Haram« (Bücher sind verboten) hervor, die seit nunmehr zehn Jahren im Nordosten Nigerias ihr Unwesen treibt und auch Teile Nigers, Tschads und Kameruns rund um den Tschadsee in eine Gewaltspirale und humanitäre Krise mit tausenden Toten und Millionen Vertriebenen gestürzt hat. Boko Haram – mittlerweile offenbar in mehrere Flügel gespalten – zeigt, dass es im Sahel auch ohne arabische Radikale möglich ist, einen islamistischen Krieg zu führen.
Mit arabischen Radikalen geht es allerdings noch besser. Den ersten expliziten Übergang zum bewaffneten Kampf gab es in Algerien, als die islamistische Oppositionspartei FIS (Islamische Heilsfront) die ersten freien Wahlen gewann und daraufhin das Militär im Januar 1992 putschte und die Wahlen annullierte. Die FIS blies zum Widerstand, über 150.000 Menschen kamen in dem siebenjährigen Bürgerkrieg um, dessen Erschütterungen mit dem Entstehen einer gewaltbereiten nordafrikanischen Diaspora bis heute spürbar sind. Der algerische Bürgerkrieg endete erst 1999 mit der Wahl des Zivilisten Abdelaziz Bouteflika zum Präsidenten. Bouteflika leitete ein Versöhnungsprogramm ein, doch die radikale Splittergruppe »Bewaffnete Islamische Gruppe« (GIA) hatte den FIS-treuen Rebellen längst den Rang abgelaufen und beging Massaker an Zivilisten. Wie beim »Islamischen Staat« (IS), der zwanzig Jahre später in Syrien gemäßigte Rebellen verdrängte, ist auch bei der GIA nie restlos geklärt worden, ob nicht Teile des Militärapparats selbst den Aufstieg der Gruppe gefördert haben, um die Opposition gegen die Diktatur insgesamt in die terroristische Ecke zu stellen.
Nach Kriegsende kämpfte die GIA-Nachfolgeorganisation GSPC (Salafistische Gruppe für Predigt und Kampf) weiter – und von da an auch über Algeriens Grenzen hinaus. Kämpfer von Abderazak »El Para«, der von der algerischen Armee desertiert war und später Mitglied der GSPC-Führung wurde, nahmen 2003 im Süden Algeriens zehn europäische Touristen als Geiseln und zogen sich mit ihnen nach Mali zurück. Die Geiseln wurden Monate später mutmaßlich gegen eine nie offiziell bestätigte Zahlung von rund 5 Millionen Euro Lösegeld durch die deutsche Bundesregierung wieder freigelassen. Das Geld aus Deutschland gilt als Startkapital für den grenzüberschreitenden bewaffneten Islamismus in der Sahelzone.
GSPC-Führer El Para wurde 2004 im Tschad gefasst, aber seine Gruppe blieb bestehen und schloss sich 2006 al-Qaida an, um ab 2007 unter dem Kürzel AQMI (al-Qaida im Islamischen Maghreb) den Alleinvertretungsanspruch für den bewaffneten Islam in ganz Nordafrika zu erheben. Angriffe auf Militäreinrichtungen und Geiselnahmen in Mauretanien, Algerien, Mali und Niger erschütterten in den Folgejahren die Region. 2012 nutzte AQMI mit anderen islamistischen Gruppen den Sieg aufständischer Tuareg über Malis Armee, um erstmals offiziell eine territoriale Herrschaft zu errichten. Tuareg-Rebellen erklärten den Norden Malis zum unabhängigen Staat »Azawad«; wenig später übernahmen dort die bewaffneten Islamisten die Macht und etablierten eigene Verwaltungsstrukturen – eine neue Qualität ihres Kampfs.
International am meisten Aufsehen erregte die Zerstörung alter muslimischer Heiligtümer und Schriften in der alten Wüstenstadt Timbuktu. Die einheimische Bevölkerung aber litt vor allem unter dem autoritären, religiös verbrämten Eingriff in persönliche Freiheiten und ins Privatleben, bis hin zum Verbot von Musik und Vorschriften, was Frauen tun dürfen und was nicht. Es war der erste Versuch der Sahel-Islamisten, nicht nur sektengleich die eigenen Anhänger zu kujonieren, sondern staatsgleich ganze Bevölkerungen. Militärisch scheiterte das spektakulär. Die frühere Kolonialmacht Frankreich griff unter dem Beifall der malischen Bevölkerung mit eigenen Kampftruppen ein, trieb die islamistischen Kämpfer in den Untergrund und jagt bis heute mit Spezialkräften, Kampfjets und Drohnen in den Weiten der Sahara einen schwer zu fassenden Feind. Damit ist das Sicherheitsproblem aber keineswegs eingedämmt, denn AQMI und seine Erben sind nicht die Einzigen, die grenzüberschreitend für Instabilität sorgen. Älter, und zeitweise für die Staaten der Region bedrohlicher, sind die Selbstbestimmungsansprüche jener Volksgruppen, die sich über mehrere Staaten verteilen.
Zum Zeitpunkt der Unabhängigkeit fühlten sich in jedem Land wichtige Bevölkerungsgruppen aus dem neuen Staatsgefüge ausgeschlossen und mal als Fremde, mal als Minderwertige gebrandmarkt: Berber in Algerien, Schwarze in Mauretanien, Tuareg in Mali und Niger; später kamen die Sahrauis in der von Marokko annektierten Westsahara dazu. Der Umgang der zuständigen Staaten mit ihnen hat überall Konflikte produziert.
Tuareg-Revolten erschütterten Mali bereits in den 1960er Jahren und erneut in den 1990er Jahren, in Niger insbesondere in den 2000er Jahren – aus Sicht von Tuareg-Führern waren und sind die neuen Staatsgrenzen quer durch die Sahara ein Eingriff in ihre Bewegungsfreiheit, aus Sicht anderer Volksgruppen waren und sind Tuareg nur bedingt loyale Staatsbürger.
Diese Unzufriedenen aus den Sahelstaaten fanden Sympathie und Hilfe bei Libyens Diktator Muammar al-Gaddafi, dessen Anspruch auf Herrschaft und Einfluss immer über die libyschen Grenzen hinausging. Tuareg-Exilanten genossen in Libyen Aufnahme und militärische Ausbildung und fanden sich im libyschen Bürgerkrieg 2011 auf der Seite Gaddafis wieder. Nach Gaddafis Sturz im August 2011 verließen sie Libyen und kehrten mit beträchtlichen Waffenarsenalen in ihre Heimat zurück. In Mali ermöglichte ihnen das, blitzartig den Norden des Landes zu erobern; erst durch Frankreichs Militärintervention 2013 wurden sie daran gehindert, die Kontrolle über das ganze Land zu übernehmen. Tuareg-Gruppen üben bis heute die faktische Regierungsgewalt in Teilen Nordmalis aus, im Rahmen eines instabilen, von Algerien vermittelten Friedensprozesses.
Doch nicht nur die Tuareg prägen die jüngere Geschichte der grenzüberschreitenden Sahelrebellionen. Auch die größte Volksgruppe der Region – in englischsprachigen Ländern Fulani, im französischsprachigen Raum Peul genannt – spielt eine wichtige Rolle. Anders als die Tuareg Erben eines vorkolonialen Großreichs und bis heute bestimmend in der Politik mehrerer Länder wie Nigeria, gelten die Peul/Fulani in zahlreichen Staaten mittlerweile als unsichere Kantonisten, weil ihre familiären Loyalitäten und ökonomisch-gesellschaftlichen Aktivitäten nicht an den Landesgrenzen haltmachen. Da ihre Savannenregionen meist von den jeweiligen Regierungen vernachlässigt werden, fallen dort Aktivitäten islamistischer Prediger auf fruchtbaren Boden und haben eine Generation von Radikalen hervorgebracht, die sich bereitwillig den bestehenden islamistischen Netzwerken anschließen und bei denen die Erinnerung an alte Fulani-Reiche den Traum vom Kalifat ersetzt.
In allen Staaten der Region ist es für Demagogen verlockend, Tuareg und Peul als verantwortlich für die Destabilisierung zu brandmarken – was die Region erst recht in eine Gewaltspirale treibt. Keine Ethnie ist politisch homogen, weder Tuareg noch Peul, beides sind Sammelbegriffe für eine viel komplexere Realität. Träger der Tuareg-Aufstandsbewegungen sind vor allem alte Adelsclans, die historisch den Sahara-Fernhandel kontrollierten und sich einer einzelnen Staatsmacht noch weniger unterordnen wollen als Hirtenclans.
Problematisch wird es, wenn bewaffnete Führer von Tuareg- oder Peul-Rebellen einerseits den Anspruch erheben, ihre gesamte Volksgruppe zu vertreten, andererseits bewusst ins Fahrwasser des bewaffneten Islamismus steuern. Der einst prominenteste Tuareg-Führer in Mali, Iyad Ag Ghali, ist dafür ein gutes Beispiel. 2003 vermittelte er bei der Freilassung europäischer AQMI-Geiseln in Mali, später war er malischer Konsul in Saudi-Arabien. Während der Mali-Krise 2012/13 führte er die bewaffnete islamistische Gruppe »Ansar Dine«; diese verschmolz später mit der ursprünglich algerischen AQMI zur JNIM (Dschamaat Nusrat al-Islam wal-Muslimin: Unterstützergruppe des Islam und der Muslime). Die JNIM verübte vor allem Anschläge gegen europäische Zivilisten und Militärs in Mali, Burkina Faso, Niger und Tschad.
Parallel zu Iyad Ag Ghali bei den Tuareg stieg bei den Peul Amadou Koufa auf. Der in pakistanischen Medressen (Koranschulen) ausgebildete Malier wurde in den 1990er Jahren ein beliebter Prediger und später Anführer bewaffneter Kämpfer. 2015 gründete er in Malis Grenzgebiet zu Burkina Faso die »Macina-Befreiungsfront«, die schließlich ebenso wie Iyad Ag Ghalis Truppe zur JNIM stieß. Seine Kämpfer nutzten das benachbarte Burkina Faso zunächst als Rückzugsraum, dann aber auch als Kampfgebiet – Burkina Faso ist inzwischen genauso instabil wie Mali, obwohl Koufa selbst einem französischen Luftangriff zum Opfer gefallen sein soll.
Wegen dieses neuen »Peul-Dschihads« werden nun die Peul/ Fulani in allen Ländern der Region von ihren Gegnern in die islamistische Ecke gestellt, bis hinunter in die Zentralafrikanische Republik. Alte Konflikte zwischen herumziehenden Peul-Hirten und sesshaften Bauern, die seit Jahrhunderten in allen Sahelstaaten ein Dauerthema sind, erhalten dadurch eine neue, überregionale und unversöhnliche Dimension, vor allem wenn die Gegner Fulani-Christen sind wie in Nigeria. Während sich Fulani-Milizen und Milizen anderer Völker als Selbstverteidigungsgruppen bezeichnen, erklären sie sämtliche Angehörigen der gegnerischen Volksgruppe zum legitimen Kriegsziel. Diesen Spannungen fallen in Zentralnigeria mittlerweile mehr Menschen zum Opfer als dem Krieg von Boko Haram weiter nördlich. Ähnliche Konflikte gibt es in weiten Teilen Burkina Fasos und Malis.
Es gibt indes auch unter den Islamisten starke Rivalitäten und tiefe Spaltungen. 2015 entstand unter Leitung eines ehemaligen Polisario-Untergrundkämpfers, der ebenso wie JNIM für zahlreiche Anschläge verantwortlich sein soll, ein Sahel-Arm des »Islamischen Staats« als »Islamischer Staat der Großen Sahara«.
Zwischen lokalen Zusammenstößen und von außen hereingetragenen Islamistenoffensiven fällt die Unterscheidung oft schwer, zumal die Beteiligten beides auch gern gleichsetzen, entweder um stärker zu erscheinen, als sie sind, oder um den Gegner zu verteufeln. Viele traditionelle Mechanismen der lokalen Konfliktlösung und der Kohabitation in der Sahelzone versagen angesichts der ökologischen Krise in Zeiten der Erderwärmung, der Unfähigkeit des Staats und der Radikalisierung junger Akteure aller Seiten.
Wurde einst auf lokaler Ebene ausgehandelt, zu welchen Zeitpunkten Hirten mit ihren Herden Bauernland durchqueren dürfen, sind solche Vereinbarungen heute in vielen Orten nicht mehr möglich oder werden einfach ignoriert. Wenn der Klimawandel dazu führt, dass die Herden auf der Suche nach Weideland früher nach Süden ziehen und daher nicht mehr nach der Ernte, sondern davor durch Felder ziehen, die Ernten wegfressen und damit die Lebensgrundlage der Bauern zerstören, kann daraus schnell Ärger entstehen, in dem sich dann alle längst gewaltbereiten Akteure einmischen.
In allen Ländern der Sahelzone müssen jetzt immer größere Bevölkerungsgruppen ihr Leben im Schatten von Gewalt organisieren und können dabei von staatlicher Stelle auf keinerlei Unterstützung zählen. Da zudem die Bevölkerung im Sahel schneller wächst als irgendwo sonst auf der Welt, die Infrastruktur aber nicht ausreichend entwickelt wird und keine ökonomischen Perspektiven geschaffen werden sowie bewährte Überlebensstrategien nicht mehr funktionieren, sieht die Zukunft eher düster aus.
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Autor: Dominic Johnson ist Afrika-Redakteur der taz.
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