Exjugoslawien: der Zerfall ist noch nicht zuende

Bei den blutigen Konflikten in den 1990er-Jahren ging es um die territoriale Aufteilung, aber auch um den Status der Minderheiten in den neuen Staaten. Die »ethnischen Säuberungen« – in Bosnien wie auch in Kroatien und im Kosovo – bestimmen die Lage der Vertriebenen bis heute. Deren Rückkehr sowie eine allgemeine politische Versöhnung werden jedoch erst möglich, wenn die Kriegsverbrecher bestraft sind.

Keine Sieger im Krieg

Der Bosnienkrieg von 1992 bis 1995 kannte im Grunde keinen Sieger. Dasselbe gilt für den kriegerischen Konflikt im Kosovo und erst recht für seine letzte Phase, die durch die Nato-Luftangriffe im Frühjahr 1999 gekennzeichnet war.

Gründung eines Protektorats

Die Waffenstillstandsvereinbarung, die Ende 1995 bei den Verhandlungen in Dayton (USA) zustande kam, installierte innerhalb eines als souverän anerkannten Staates eine Art Protektorat. Der Staat Bosnien-Herzegowina blieb zwar innerhalb seiner alten Grenzen erhalten, wurde jedoch in ethnische »Gebietseinheiten« aufgeteilt, die das Ergebnis eines Krieges waren, dessen Gründe und Verlauf noch heute innerhalb der einzelnen Bevölkerungsgruppen unterschiedlich dargestellt werden.

Verfassung als nicht praktizierbar deklariert

Beim Aushandeln wie bei der Umsetzung der Dayton-Vereinbarungen waren die Großmächte auf die drei Repräsentanten der beteiligten Konfliktpartner angewiesen: den serbischen Präsidenten Slobodan Miloševic, den kroatischen Präsidenten Franjo Tudjman und den »Bosniaken« (muslimischen Bosnier) Alija Izetbegovic, damals Präsident von Bosnien-Herzegowina.

Alle drei sind inzwischen gestorben. Miloševic 2006 als Angeklagter vor dem Internationalen Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien in Den Haag, Tudjman 1999 noch im Amt und Izetbegovic 2003 im Ruhestand. Die von ihnen unterzeichneten Verträge bescherten dem Land eine Verfassung, die man Ende 2005, zehn Jahre nach ihrem In-Kraft-Treten, für nicht praktizierbar erklären musste.

Konsolidierung des Belgrader Regimes

Das Dayton-Abkommen hat die Macht des Belgrader Regimes auch dadurch konsolidiert, dass es sowohl das Thema Kosovo aussparte als auch die ethnischen Säuberungen, denen im Sommer 1995 die etwa 300.000 Serben auf kroatischem Gebiet (vor allem in der Krajina) zum Opfer gefallen waren. Die Großmächte segneten damit die Vertreibung der serbischen Minderheit ab, die seitdem nur noch 5 statt wie vorher 12 Prozent der Bevölkerung Kroatiens ausmacht.

Flucht und Vertreibung (1991-2001)
Foto: © Le Monde diplomatique

Aufnahme in die EU

Trotz dieser Defizite des Dayton-Abkommens, die immer noch nicht behoben sind, hat die EU dem beitrittswilligen Kroatien Ende 2005 den offiziellen Kandidatenstatus bescheinigt. Zum selben Zeitpunkt wurden mit Bosnien-Herzegowina Gespräche über ein Stabilisierungs- und Assoziationsabkommen (SAA) eröffnet, das perspektivisch in die EU führt.

Unabhängigkeitsbestrebungen des Kosovo

Weniger klar ist, was mit dem Kosovo geschehen soll. Nachdem die albanisch-kosovarische Befreiungsarmee UÇK den bewaffneten Kampf für die Unabhängigkeit intensiviert hatte, wurde sie als »terroristische« Organisation gesehen, bis sie 1998 von Washington politisch instrumentalisiert wurde.

Nachdem es 1999 auf der Konferenz von Rambouillet nicht gelungen war, den Status der Provinz zu klären, versuchte die Nato mangels Billigung der UNO, ihre Intervention durch die Beteiligung der EU zu legitimieren. Die Kosovoalbaner sahen jetzt die Chance eines Bruchs zwischen Belgrad und Brüssel gekommen, der am Ende ihre Unabhängigkeit ermöglichen würde.

Kosovo untersteht der Verwaltung durch die UNO

Der Krieg endete dann jedoch mit der Resolution 1244 des UN-Sicherheitsrats. Mit Zustimmung von Slobodan Miloševic wurde das Kosovo damit der Verwaltung durch die UNO unterstellt, doch formal blieb es ein Teil Serbiens, das in diesem Punkt die Rechtsnachfolge Jugoslawiens antrat. Im Februar 2006 begannen neue Verhandlungen über den Status der Provinz, an deren Ende ein Formelkompromiss bei faktischer Unabhängigkeit des Kosovo stehen könnte.

Abhängigkeit von internationalen Institutionen

Inzwischen leiden sowohl das Kosovo als auch Bosnien-Herzegowina an einem Abhängigkeitssyndrom, insofern beide Gebiete für ihr Überleben auf die internationalen Institutionen angewiesen sind. Der Wiederaufbau kommt nicht voran, die Arbeitslosigkeit liegt bei 50 Prozent, wozu die Härten neoliberaler Wirtschaftskonzepte ebenso beitragen wie die Ungewissheit des künftigen politischen Status.

Bosnische Asylbewerber in Europa
Foto: © Le Monde diplomatique

Friedenszustand mit Schwachstellen

Der Krieg hat Wunden geschlagen, die bis heute nicht verheilt sind. Und sein Resultat ist ein Friedenszustand, der weder funktionierende Staatswesen noch sozialen Fortschritt gebracht hat. Auch nach mehr als zehn Jahren Quasiprotektorat sind in Bosnien-Herzegowina noch immer nicht alle Verschwundenen von Srebrenica gefunden, und auch die Verantwortung der Blauhelmsoldaten, die die muslimische Enklave schützen sollten, wurde noch nicht aufgearbeitet.

Eine Million Menschen – die Hälfte aller Vertriebenen und Flüchtlinge – sind noch nicht an ihre alten Wohnorte zurückgekehrt, darunter auch 200.000 Serben, die in Kroation lebten. Das liegt in den meisten Fällen an der Schwierigkeit, den verlassenen Besitz zurückzuerlangen, und an der allgemeinen Unsicherheit. Auch aus dem Kosovo sind seit Juni 1999 – trotz der Präsenz von Nato-Truppen – fast 200 000 Nichtalbaner, hauptsächlich Serben, geflohen. Besonders dramatisch ist dabei die Diskriminierung der Roma, die von vielen Albanern für Kollaborateure mit der serbischen Macht gehalten werden.

Was vom Vielvölkerstaat übrig blieb
Foto: © Le Monde diplomatique

Missachtung des internationalen Rechts

Entscheidend für eine Versöhnung ist die Bestrafung der Verbrechen. Doch zehn vor dem Internationalen Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien (ICTY) angeklagte Verbrecher befinden sich nach wie vor auf freiem Fuß, darunter der militärische und der politische Führer der bosnischen Serben, Ratko Mladic und Radovan Karadžic. Und in ihrem Herkunftsgebiet gelten die Beschuldigten vielfach als Helden.

Die USA machen es deren Unterstützern leicht. Während Washington in Exjugoslawien moralische Noten verteilt, missachtet es selbst das internationale Recht, etwa in Guantánamo, auf dessen Basis Kriegsverbrecher abgeurteilt werden. Und verweigert jede Zusammenarbeit mit dem Internationalen Strafgerichtshof, der weltweit dieselbe Aufgabe wie das Jugoslawientribunal wahrnehmen soll.

Autorin: Catherine Samary

Catherine Samaryist Professorin für Wirtschaft an der Universität Paris-Dauphine und Autorin u. a. von »Die Zerstörung Jugoslawiens. Ein europäischer Krieg«, Köln 1995, sowie (zs. mit Jean-Arnault Dérens) »Les Conflits yougoslaves de A à Z«, Paris (L’Atelier) 2000 (deutsch »Jugoslawien von A bis Z. Geschichte, Staaten, Wirtschaft, Ethnien, Organisationen und Personen«, Köln, Neuer ISP Verlag, erscheint in Kürze).

Mehr Informationen zu dem Thema:

Analysen und aktuelle Nachrichten

Website des Internationaler Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien

Quelle:
Atlas der Globalisierung,
Le Monde diplomatique.

© 2006

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