Errechnete Einkommensunterschiede zwischen den Ländern ergeben ein unvollständiges Bild von der Ungleichheit in der Welt. So garantierte etwa in den relativ armen Ländern Vietnam und China das System der gesellschaftlichen Umverteilung über Jahrzehnte jedem den direkten Zugang zu Gesundheit und Bildung. Inzwischen setzt sich auch hier zunehmend die direkte Bezahlung von Bildungs- und Gesundheitsleistungen durch, während die allgemeine soziale Sicherung weiter abgebaut wird – das verändert die Situation dramatisch.
In den meisten Subsahara-Staaten und in vielen Ländern Lateinamerikas ist der Zugang zu Wasser und fruchtbaren Böden der entscheidende Faktor für die Ungleichheit. Ein niedriges Einkommen ist dort gleichbedeutend mit Elend. Das gilt immer häufiger auch in den ehemals sozialistischen Ländern. Die Weltbank-Statistiken zur Armutsentwicklung in Osteuropa und der ehemaligen Sowjetunion bringen kaum Licht ins Dunkel der Systemveränderungen seit dem Ende der Planwirtschaft und den Privatisierungen Anfang der 1990er-Jahre.
In diesen Ländern gewährleistet häufig die Selbstversorgung mit Nahrungsmitteln das Überleben, was aber die statistisch erfasste Zahl der Erwerbstätigen sinken lässt und natürlich kein Ersatz für echte soziale Sicherheit sein kann. Auch sagen die Statistiken wenig darüber, wie sich Strompreiserhöhungen, gestiegene Transportkosten und höhere Mieten auf die Ungleichheit auswirken, und sie geben keine Auskunft, ob die breite Bevölkerung nach der Privatisierung öffentlicher Dienstleistungen weiterhin Zugang zu diesen Dienstleistungen hat oder nicht.
Der von den Vereinten Nationen ermittelte Index der menschlichen Entwicklung (Human Development Index, HDI) und ähnliche von unabhängigen Institutionen entwickelte Indikatoren geben genaueren Aufschluss über die reale Ungleichheit, weil sie diese am Zugang zu Gütern wie Gesundheit und Bildung bemessen und auch nach Frauen und Männern differenzieren.
Zwischen 1990 und 2000 sank der HDI in 21 Entwicklungsländern. Im Jahrzehnt zuvor hatten nur vier Länder im Vergleich zum vorangegangenen Zeitraum einen niedrigeren HDI aufgewiesen.
Die Ungleichheit zwischen den Ländern der Welt wird durch den Vergleich der Durchschnittsindikatoren berechnet, z. B. an Hand des Bruttoinlandsprodukts pro Kopf nach Kaufkraftparität. Studien aus den 1970er- und 1980er-Jahren kommen zu dem eindeutigen Schluss, dass die Ungleichheit zwischen den Ländern zugenommen hat, und zwar dank der günstigen Handelsbedingungen für die reichsten Nationen.
Man kann die Daten auch nach der Bevölkerungszahl gewichten – wodurch China »schwerer wiegt« – und kommt dadurch zu einem »Indikator der internationalen Ungleichheit«.
Bis in die 1980er-Jahre hinein entwickelten sich die beiden Ungleichheitsindikatoren (Ländervergleich und internationaler Vergleich) weitgehend parallel, da die Zahl der Armen in den bevölkerungsreichen Ländern China und Indien einigermaßen stabil blieb.
Im Lauf der letzten zwei Jahrzehnte ist die Zahl der Armen insbesondere in China jedoch stark zurückgegangen. Damit weichen die Indikatoren mittlerweile deutlich voneinander ab: Während die Kluft zwischen den Ländern tiefer wird, ist die internationale Ungleichheit weniger stark ausgeprägt. Gleichzeitig nimmt die Ungleichheit zu – außer eben in China.
Die Ungleichheit innerhalb der einzelnen Länder konnte nach dem Zweiten Weltkrieg bis in die 1970er-Jahre hinein abgebaut werden. Danach kehrte sich der Trend um, und zwar sowohl in den Industriestaaten als auch in den Entwicklungsländern einschließlich Chinas, wo der in absoluten Zahlen gemessene Rückgang der Armut mit einem sehr ungleich verteilten Wachstum einhergeht.
Die Wirtschaftspolitik Chinas ist die Ursache für diese ungleiche Entwicklung, die ähnlich auch in den Industrieländern zu beobachten ist, die sich in der OECD (Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung) zusammengeschlossen haben.
Die neoliberale Wende haben diese Länder als Erste vollzogen. Zwischen 1979 und 2001 stiegen die Einkommen bei den ärmsten 20 Prozent ihrer Bevölkerung um 8 Prozent, bei den mittleren Einkommensschichten um 17 Prozent, beim reichsten Zehntel der Bevölkerung um 69 Prozent und bei dem einen Prozent der Superreichen um 139 Prozent.
Zwischen 1980 und 2000 nahm die Armut in neunzehn von zwanzig Ländern zu: In Großbritannien leben 60 Prozent mehr Familien unterhalb der Armutsgrenze, in den Niederlanden sind es 40 Prozent. Und je näher man den Rändern der Welt kommt, umso schwindelerregender wird die Kluft zwischen Arm und Reich.
Dies ist sowohl Ausdruck der ungleichen internationalen Beziehungen als auch nationaler Wirtschaftspolitik. Die Großmächte reden vom Freihandel und setzen ihre Arbeiter und Angestellten einem enormen Konkurrenzdruck aus. Gleichzeitig behalten sie sich vor, ihre eigenen Unternehmen diskret zu unterstützen, und zwingen die Volkswirtschaften an der Peripherie, sich den Märkten zu öffnen.
China kann international auf spektakuläre Weise »aufholen«, weil es wirkungsvolle staatliche Mechanismen aufrechterhalten hat, um sich zu schützen. Gleichzeitig hat das Land den Wettbewerb mit den wirtschaftlichen Großmächten aufgenommen – es handelt sich damit nicht zuletzt mehr soziale Ungleichheit ein.
Francois Houtart ist Philosoph und Theologe, Direktor des Centre tricontinental an der Katholischen Universität Louvain-La-Neuve; Autor von "Délégitimer le Capitalisme Reconstruire l´espérance, Brüssel (Colophon) 2005.
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Quelle:
Atlas der Globalisierung,
Le Monde diplomatique.
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