Als die japanische Wirtschaft gegen Ende der 1980er-Jahre »die Welt einkaufte«, brach in zahlreichen Ländern eine regelrechte Nippophobie aus. Die Presse fragte sich nach den nächsten Zielen dieser alles verschlingenden Japaner, die Unternehmen, Schlösser, Weinberge oder auch Kultursymbole an sich rissen – etwa die Columbia-Studios, die 1989 von Sony aufgekauft wurden.
Zugleich führte diese unglaubliche Erfolgsgeschichte zum Nachdenken über die Bedingungen, die Japan diese dominierende weltwirtschaftliche Rolle ermöglicht hatten. Das angebliche Modell wurde unter die Lupe genommen, und manche kamen sogar auf die Idee, es zu kopieren.
Japanische Begriffe wie »keiretsu« (verflochtene Unternehmensgruppen), »kaizen« (ein kontinuierlicher Verbesserungsprozess) oder »kanban« (eine flexible Produktionssteuerung) bereicherten das Vokabular der europäischen und amerikanischen Manager. Sie hofften, damit die Zauberformeln entdeckt zu haben, um die westlichen Wirtschaftssysteme aus ihrer chronischen Krise zu führen.
Doch die Schwärmerei für das japanische Modell war nur von kurzer Dauer. Japan stürzte in eine tiefe Wirtschaftskrise, von der es sich bis heute kaum erholt hat. Eine Spekulationsblase, die sich seit Mitte der 1980er-Jahre aufgebaut hatte und die Aktienkurse und Immobilienpreise in die Höhe trieb, platzte Anfang der 1990er-Jahre.
Die »Bubble Economy« ging zu Ende, der Börsenindex Nikkei fiel von 40.000 auf 10.000 Punkte, und der gesamte Finanzsektor war auf einmal horrend überschuldet, da die Banken die überteuerten Immobilien als Sicherheiten akzeptiert hatten. Technisch gesehen war das Land bankrott.
Japan fand sich damit in einer seit 1945 nie da gewesenen Problemsituation wieder. Grundlegende wirtschaftliche Reformen unterblieben, die Folge war eine zehnjährige Wachstumskrise. Eine korrupte Führungsriege zeigte sich unfähig, anders als mit einem unwirksamen keynesianischen Auffangverhalten zu reagieren; immer neue Konjunkturprogramme trieben nun auch noch die Staatsverschuldung in ungekannte Höhen.
Aber auch die globale Situation änderte sich. Bis dahin hatte sich Japan mit seiner wirtschaftlichen Entwicklung beschäftigen können, ohne nennenswerte Rüstungsausgaben finanzieren zu müssen oder eine regionalpolitische Verantwortung zu übernehmen. Jetzt aber drängte Washington, die militärische Zurückhaltung aufzugeben.
Damit nicht genug: 1995 geschah der Giftgasanschlag auf die U-Bahn von Tokio und wenige Monate später das Erdbeben von Kobe, bei dem der Katastrophenschutz vollkommen versagte. Das war für einen großen Teil der Bevölkerung ein ähnlicher psychologischer Schock wie 1945 die Bombenabwürfe auf Hiroschima und Nagasaki. Die Krise des Selbstbewusstseins verlangte einen Aufbruch auf allen Ebenen der Gesellschaft.
Dieser Prozess war und ist insofern nicht einfach, als viele Japaner die Bezugspunkte, an denen sie sich ihr Leben lang orientiert hatten, verloren haben. Zunächst mussten sich die meisten großen Unternehmen vom Konzept der Anstellung auf Lebenszeit und eines mit den Dienstjahren steigenden Gehalts verabschieden, um die Lohnkosten zu senken und auf internationalem Niveau wieder eine gewisse Wettbewerbsfähigkeit zu erlangen.
Der Staat, dem es seit dem Krieg gelungen war, die nationale Wirtschaft zu lenken, erwies sich als unfähig, dem Druck der neoliberalen Anforderungen zu widerstehen. Arbeitslosigkeit, Deflation und eine schrumpfende ökonomische Basis beendeten den Traum von der Wohlstandsgesellschaft.
Und schließlich verbreitete sich in der Gesellschaft die Einsicht, dass ein Schulsystem überholt war, dessen Auftrag darin bestand, den japanischen Unternehmen gehorsame Untertanen zu liefern.
Der Verlust dieser Bezugspunkte führte in eine Zeit sozialer Instabilität, in der wachsende Kriminalität, politischer Populismus oder auch eine steigende Selbstmordrate Schlagzeilen machten. Gleichzeitig hat sich die Gesellschaft weiterentwickelt. Angesichts der zögernden Reaktionen des Staates auf das Erdbeben von Kobe – Fehler, die sich seither wiederholt haben – entstanden Netzwerke gegenseitiger Hilfeleistung, die 1998 zu einem Gesetz führten, das die Bildung gemeinnütziger Vereine zuließ.
Diese Initiativen, die für japanische Verhältnisse etwas Neues sind, kümmern sich besonders um die Versorgung der alternden Bevölkerung.
Neu ist das Auftauchen von Online-Diensten, die am Fundament der bislang vorherrschenden großen Gesellschaften rütteln. Bei den neuen Technologien, vom Handy über Computer bis zu Videospielen und Zeichentrickfilmen, konnte Japan allerdings eher an seine alten Stärken in der Kommunikations- und Unterhaltungsindustrie anknüpfen.
Seit 2004 hat die Exportbranche wieder Anschluss an die weltwirtschaftlichen Entwicklungen gefunden. Deshalb ist nicht ausgeschlossen, dass Japan uns in weiteren zehn Jahren ein zweites Mal mit einer globalen Einkaufstour überrascht.
Odaira Namihei ist Journalist.
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Quelle:
Atlas der Globalisierung,
Le Monde diplomatique.
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