Indiens später Aufschwung

Indien ist es nicht gelungen, sich der Weltwirtschaft zu entziehen. Die ursprüngliche Strategie der Importsubstitution hat aber die Voraussetzungen für schnelles Wachstum geschaffen. Trotz der Erfolge bei High-Tech-Dienstleistungen: Der Agrarsektor bleibt für Indien die Schlüsselgröße.

Schwache Produktivität

Jawaharlal Nehru, Indiens erster Premierminister, von 1947 bis 1964 im Amt, und die regierende Kongresspartei orientierten sich am Entwicklungsmodell der Importsubstitution, das den Ersatz von teuren Einfuhren durch preiswertere einheimische Produkte vorsah.

Das Modell beruhte auf einer zentralisierten Planwirtschaft, mit Hauptaugenmerk auf der Industrie, der Herausbildung eines großen öffentlichen Sektors und der Einrichtung eines Systems staatlicher Genehmigungen zur Kontrolle des privaten Sektors. Hohe Zollmauern schützten die Wirtschaft vor ausländischer Konkurrenz.

Durch ausgleichende Subventionen blieb das soziale Gefälle begrenzt. Zugleich entstand eine breite Mittelschicht sowie eine solide, von internationalen Einflüssen abgeschirmte ökonomische Basis. An seine Grenzen stieß das System vor allem wegen seiner schwachen Produktivität und der für Indien immer dringlicher werdenden Notwendigkeit, sich in den Welthandel einzugliedern.

Abnahme der Exporte

Der Staat förderte den äußerst bürokratischen öffentlichen Sektor, um die Arbeitslosigkeit in den Griff zu bekommen, während die vor ausländischer Konkurrenz geschützten und staatlich kontrollierten Privatunternehmen weder nennenswerte Gewinne machen noch expandieren konnten. Schwach war auch die Exportfähigkeit, obwohl die Importe, vor allem Energieträger, zunehmend teurer wurden.

Der Anteil der indischen Exporte am Welthandel sank von 1950 bis 1973 von 1,9 auf 0,6 Prozent. Im Zuge der Ölkrisen der 1970er-Jahre musste das Land immer mehr auf Kredit importieren; 1991 belief sich die Auslandsverschuldung auf 72 Milliarden Dollar. Die Devisenvorräte reichten nur noch für den Importbedarf von vier Wochen.

Aufholen, ein Zukunftstraum
Foto: © Le Monde diplomatique

Akzeptanz eines Strukturanpassungsplan

Angesichts dieser Schwierigkeiten, des Aufschwungs in China und der Unzufriedenheit im Lande akzeptierte die indische Regierung einen Strukturanpassungsplan des Internationalen Währungsfonds (IWF). Seither wird die Wirtschaft dereguliert, ausländische Investoren dürfen Filialen gründen und Mehrheitsanteile an indischen Unternehmen erwerben.

Im gleichen Zuge werden die Importquoten abgeschafft und die Zölle, die 1991 noch 38 Prozent der staatlichen Steuereinnahmen ausmachten, abgebaut. Zwischen 1991 und 2000 sind die durchschnittlichen Zolltarife von 79 auf 30,2 Prozent gesunken, im extremsten Fall von 400 Prozent 1991 auf 35 Prozent im Jahr 2000.

Indien steht wirtschaftlich noch hinter China und Thailand

Heute hat die wirtschaftliche Öffnung Indiens einen Stand erreicht, der mit dem Argentiniens und Brasiliens vergleichbar ist, aber hinter dem anderer asiatischer Länder wie China oder Thailand liegt. Auch die Ausländischen Direktinvestitionen bleiben hinter denen in anderen Ländern Asiens zurück.

Während ausländische Gesellschaften in zahlreichen Sektoren, vom Hotelgewerbe bis hin zum Verkehrswesen und der Energieversorgung, bis zu 100 Prozent und in der Automobilbranche immerhin 51 Prozent eines indischen Unternehmens besitzen dürfen, müssen sie sich etwa im Versicherungsbereich mit einem Kapitalanteil von 27 Prozent begnügen.

Dienstleistungen, Indiens Spezialität Foto: © Le Monde diplomatique
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Steigende Zuwachsraten

Obwohl Indien zwischen 1991 und 2002 Direktinvestitionen in Höhe von 24 Milliarden Dollar sowie 23 Milliarden Anlagegelder angezogen hat, liegt die Gesamtsumme zehnmal niedriger als in China.

Doch seit einigen Jahren steigen die Zuwachsraten, nicht nur wegen des Ansturms der multinationalen Softwarekonzerne, sondern auch wegen der Verlagerung industrieller Produktionsstätten, nicht zuletzt in der Automobilbranche.

Wachstum der Exporte

Das Wachstum der indischen Exporte, hauptsächlich Textilien und Pharmaprodukte, lag zwischen 1990 und 2000 durchschnittlich bei 9 Prozent und damit über dem Anstieg der Importe um 7 Prozent. Generika, also nachgeahmte Arzneimittel, spielen dabei eine wesentliche Rolle, ebenso die Softwareproduktion. Den für diese Bereiche geltenden Regeln und Patentvorschriften der Welthandelsorganisation hat sich Indien 2005 unterworfen.

Weltweit hat Indien es mittlerweile auf ein Fünftel aller Softwareexporte gebracht. Dabei liegt der Anteil der Dienstleistungen am Exportgeschäft Indiens mit 3,9 Prozent höher als der Chinas mit 2,9 Prozent. Das ist volkswirtschaftlich von erheblicher Bedeutung, weil die Wertschöpfung bei Dienstleistungen oft größer ist als bei agrarischen oder gewerblichen Gütern.

Landwirtschaft auf dem Subkontinent
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Offensive indischer Konzerne im Westen

Die spektakulärste Entwicklung der letzten Jahre ist jedoch die Offensive multinationaler indischer Konzerne, die sich neuerdings im Ausland – auch im Westen – sehen lassen. Im Jahr 2005 haben diese Firmen 12 Milliarden Dollar ausgegeben, um überall auf der Welt Unternehmen zu kaufen.

Agrarsektor immer noch im Rückstand

Zur Abwahl der nationalistischen indischen Regierung im Jahr 2004 trug wesentlich bei, dass sie die noch immer zentrale Bedeutung der Landbevölkerung und des Agrarsektors ignoriert hatte. Die neue Regierung unter der Leitung der Kongresspartei räumt ein, dass das hohe Wachstum (allein 8 Prozent von 2004 bis 2005) nicht zwangsläufig Entwicklung bedeutet.

Mit anderen Worten: Der blühende Baum der Dienstleistungen darf nicht den Blick auf den noch sehr verkümmerten Wald der Landwirtschaft verstellen.

Autor: Christophe Jaffrelot

Christophe Jaffrelot ist Leiter des Instituts für Internationale Beziehungen (Ceri) in Paris und Mitarbeiter des französischen Forschungszentrums CNRS; er ist Autor u. a. Von »Inde, la démocratie par la caste. Histoire d’une mutation sociopolitique, 1885–2005«, Paris (Fayard) 2005.

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Quelle:
Atlas der Globalisierung,
Le Monde diplomatique.

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