Seit gut einem Jahrhundert steigt die Lebenserwartung global stetig, steil und scheinbar unaufhaltsam, nachdem sie zuvor stets niedrig geblieben und heftigen Einbrüchen durch Hungersnöte und Seuchen, Kriege und Katastrophen unterworfen war. Von geschätzt rund 30 Jahren um 1900 ist die Menschheit 2015 bei einem Durchschnitt von 71,4 Jahren angelangt – ein Zugewinn an Lebenszeit von etwa dreieinhalb Jahren pro Jahrzehnt. Frauen in Japan, die weltweiten Spitzenreiterinnen, kommen heute im Mittel auf fast 87 Jahre. Die hier und im Folgenden genannten Zahlen beziehen sich auf die mittlere Lebenserwartung bei Geburt.
In den früh industrialisierten Ländern setzte der Anstieg zuerst ein. Dank besserer Ernährung und Hygiene, Zugang zu sauberem Trinkwasser, Impfungen und Antibiotika gingen die Infektionskrankheiten zurück, die früher vor allem Kinder massenhaft dahingerafft hatten. Mit zunehmendem Wohlstand rückten Herz-Kreislauf-Erkrankungen wie Arteriosklerose, Herzinfarkte und Schlaganfälle auf Platz eins der Erkrankungs- und Todesursachen. Von den 1960er Jahren an konnten neue Medikamente und Therapien, aber auch vermehrte Aufklärung über die Risiken von falscher Ernährung, Bewegungsmangel und Rauchen diese »Zivilisationskrankheiten« zurückdrängen. Zudem wurde es dank moderner Medizin möglich, mit diesen Erkrankungen länger zu überleben. So verschiebt sich der Rückgang der Sterblichkeit in den meisten Industrieländern in immer höhere Altersgruppen.
In den weniger entwickelten Teilen der Welt setzte der Anstieg der Lebenserwartung später ein. Zwischenzeitlich stagnierte oder fiel sie sogar, vor allem durch die HIV/Aids-Epidemie, die von den 1990er Jahren an besonders in Afrika und Asien zahlreiche Todesopfer forderte. Heute klafft zwischen den mehrheitlich reichen Weltregionen und Afrika zwar immer noch eine Lücke bei der Lebenserwartung von 17 Jahren, aber die Tendenz zeigt auch in den Schwellen- und Entwicklungsländern nach oben.
Langlebigkeitsoptimisten sind davon überzeugt, dass schon heute Menschen leben, die im Prinzip 150 Jahre alt werden können. Sie weisen darauf hin, dass die Lebenserwartung in der Vergangenheit jede zuvor vermutete Obergrenze noch stets durchbrochen hat. Und sie geben sich zuversichtlich, dass die biomedizinische Forschung künftig das Altern aufhalten und den Tod hinausschieben könne.
Allerdings sind zurzeit Entwicklungen zu beobachten, die den Anstieg der Lebenserwartung eher bremsen – zumindest regional beziehungsweise in bestimmten Schichten der Gesellschaft. Die Gesundheit und damit die Lebenserwartung werden wesentlich von zwei Faktoren bestimmt: dem Sozialstatus und dem Bildungsgrad. In vielen Industrieländern ist die Gesellschaft gespalten in Gruppen, die ein sehr hohes Alter erreichen und dabei lange fit und gesund bleiben, und weniger Privilegierte, die tendenziell eher risikoreiche Lebensweisen pflegen, denen Stress zusetzt, die häufiger erkranken und früher sterben.
Besonders deutlich zeigt sich das in den USA, wo die Differenz zwischen dem County (Bezirk) mit der höchsten und jenem mit der niedrigsten Lebenserwartung 20 Jahre beträgt. Große regionale und soziale Unterschiede gibt es auch in Deutschland. Im wohlsituierten bayerischen Landkreis Starnberg können neugeborene Jungen im Mittel ein Alter von 81,5 Jahren erreichen, während sie in der ehemaligen Schuhmachermetropole Pirmasens in Rheinland-Pfalz nur auf 73,4 Jahre kommen – ein Unterschied von gut acht Jahren.
Auch in den Teilen der Welt, die in Entwicklung begriffen sind, ist der weitere Zuwachs an Lebenszeit teilweise gefährdet. Immer noch sterben viel zu viele Menschen und vor allem Kinder unter fünf Jahren an Infektionskrankheiten. Prävention wäre relativ einfach. So helfen Moskitonetze gegen die Malariamücke, Kondome gegen Ansteckung mit HIV/Aids, und sauberes Trinkwasser schützt vor Cholera. Aber es fehlt oft an Geld, an Zugang zu diesen Mitteln – oder an Wissen, wie Risiken zu vermeiden sind. Trotz vieler Fortschritte ist auch Unterernährung nach wie vor verbreitet.
Sie macht Menschen anfälliger für Infektionen und hindert sie daran, ihre Potenziale zu entfalten. Gleichzeitig nimmt überall dort, wo bessergestellte Mittelschichten entstehen, die Zahl der Menschen rasant zu, die an krankhaftem Übergewicht und Folgeerkrankungen wie Diabetes oder Bluthochdruck leiden.
Alles in allem heißt das: Selbst wenn Einzelne Altersrekorde erreichen, dürfte es künftig schwieriger werden, den Durchschnitt zu erhöhen. So fallen die Zuwächse an Lebenszeit seit 1950 immer geringer aus – und zwar wider Erwarten am ausgeprägtesten in den Ländern mit niedriger mittlerer Lebenserwartung, die eigentlich das höchste Zugewinnpotenzial hätten. Im Industrieland USA verzeichnete die Statistik für 2016 sogar einen leichten Rückgang gegenüber dem Vorjahr, zum zweiten Mal in Folge.
Die zentrale Frage ist also nicht, ob sich der Anstieg immer weiter fortsetzt. Sie lautet vielmehr: Wie lässt sich mehr – gesundheitliche – Gleichheit herstellen, damit die heute Benachteiligten in puncto Lebenserwartung aufholen?
Autor: Sabine Sütterlin ist Diplom-Biochemikerin, Wissenschaftsjournalistin und freie Mitarbeiterin des Berlin-Instituts für Bevölkerung und Entwicklung.
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