Die Nachwuchsfrage

Sind die Geburtenziffern erst einmal gesunken, endet auch das natürliche Bevölkerungswachstum.

Etwa seit der Jahrtausendwende lebt die Hälfte der Menschheit in Ländern, in denen die Geburtenziffer unter den Wert von 2,1 Kindern je Frau gesunken ist. Bei diesem Wert hält sich eine Bevölkerung längerfristig ohne Zuwanderung stabil. Rund 80 Länder haben diese Ziffer mittlerweile unterschritten. In Europa kommt kein Land auf »bestandserhaltende« Nachwuchszahlen. Am niedrigsten liegen sie im ehemals kommunistischen Osteuropa und in Südeuropa. In Ostasien befinden sich große Länder wie Japan, Südkorea, Taiwan und China auf Schrumpfkurs beziehungsweise erleben bereits einen Bevölkerungsrückgang. Auch die ersten Schwellenländer folgen diesem Trend. So stehen Brasilien, Chile, Sri Lanka und Thailand vor dem baldigen Ende des natürlichen Bevölkerungswachstums. Die Türkei, Tunesien oder Vietnam dürften folgen. Einen regelrechten Geburtenabsturz hat die Islamische Republik Iran erlebt, wo die Geburtenziffer binnen einer Generation von fast 7 auf 1,8 gesunken ist. Dort hat sich längst, unter der Kruste eines totalitären Regimes, eine moderne Gesellschaft mit hohem Bildungsstand, mit einer vergleichsweise guten Gleichstellung von Frauen und einer starken Urbanisierung entwickelt, in der niedrige Kinderzahlen typisch sind. Unter den Industrienationen verzeichnet allein Israel höhere als bestandserhaltende Kinderzahlen.

Bedeutet diese Entwicklung für die entsprechenden Länder ein dauerhaftes Schrumpfen der einheimischen Bevölkerung – bis hin zum langfristigen Aussterben – oder können die Kinderzahlen auch wieder steigen?

Nach allem, was die Forschung bisher weiß, ist der Rückgang der Kinderzahlen unter das sogenannte Reproduktionsniveau zumindest mittelfristig irreversibel. Bis dato gibt es keine Anzeichen für eine Trendwende, geschweige denn dafür, dass die Fertilitätsraten wieder deutlich über den Wert von 2,1 steigen. Ein einmal eingeleiteter Einwohnerschwund ist somit nur über Zuwanderung und/oder über eine stark steigende Lebenserwartung wettzumachen. Länder wie Frankreich oder Schweden haben es zwar geschafft, durch gute Betreuungsmöglichkeiten und finanzielle Unterstützung der Familien die Geburtenziffern wieder leicht steigen zu lassen, aber nicht über 2,1. Auch unter den besten existierenden familienpolitischen Rahmenbedingungen scheint dies nicht möglich zu sein.

Zusammengefasste Geburtenziffer 2010-2015

Zusammengefasste Geburtenziffer 2010-2015 © Le monde diplomatique

Raum für familienpolitische Maßnahmen

Dass es Raum für familienpolitische Maßnahmen gibt, zeigt die Tatsache, dass in praktisch allen entwickelten Ländern die Wunschkinderzahlen höher liegen als die tatsächlichen. Aber es gibt eine Reihe von Gründen, warum der Wunsch oft nicht Wirklichkeit wird: Junge Menschen haben heute zahllose Möglichkeiten, ihr Leben zu gestalten, und die Familiengründung ist nur eine davon. Diese Möglichkeiten wachsen mit steigendem Bildungsstand – und sie führen dazu, dass Frauen in immer späteren Jahren Nachwuchs bekommen, was die Zahl der Kinder natürlicherweise begrenzt. Ein weiterer limitierender Faktor, vor allem in aufsteigenden Schwellenländern wie China, sind die hohen Kosten für die Ausbildung der Kinder und Jugendlichen und für das Leben in Städten. Hinzu kommt, dass niedrige Kinderzahlen nach einer Generation zu einer Art sozialen Norm werden, weil den heranwachsenden Generationen die Erfahrung mit großen Familien und vielen Geschwistern verloren geht. Forscher sprechen in diesem Zusammenhang von einer sogenannten Niedrigfertilitätsfalle, in der Länder wie Deutschland und Österreich, Südkorea oder Japan seit Jahrzehnten stecken.

Karte zusammengefasste Geburtenziffer 1950-1955

Karte zusammengefasste Geburtenziffer 1950-1955 © Le monde diplomatique

Einpendeln der Geburtenrate

Systemanalytische Studien gehen davon aus, dass sich die Geburtenziffern in entwickelten Ländern und jenen, die auf dem Weg dorthin sind, langfristig zwischen Werten von 1,5 und 2,0 einpendeln werden. Ein weiteres Absinken der Kinderzahlen gilt als unwahrscheinlich, weil Menschen als biologische Wesen eine natürliche Neigung haben, Nachwuchs großzuziehen.

Für die These, dass sich unter dem Einfluss von Wirtschaftskrisen und wachsender Arbeitslosigkeit die Lebensbedingungen so verschlechtern, dass Kinder, wie zu früheren Zeiten, wieder eine größere Bedeutung bekommen, gibt es bisher keine Belege. Im Gegenteil: So sind die Kinderzahlen in den Staaten des ehemaligen Ostblocks nach der Wende, als viele Menschen ihre Beschäftigung verloren, sich neuen Anforderungen stellen mussten und alte Gewissheiten schwanden, dramatisch eingebrochen, im Osten Deutschlands über ein Jahrzehnt lang um rund die Hälfte. In den südeuropäischen Ländern hatte die zurückliegende Finanz- und Eurokrise ähnliche, wenngleich nicht so massive Auswirkungen. Die Menschen in den entwickelten Ländern reagieren damit durchweg rational: Nachwuchs bedeutet zusätzliche Belastungen, weshalb sie in schwierigen Zeiten die Familiengründung erst einmal vertagen, um sie gegebenenfalls später nachzuholen. Anders ist die Reaktion in den ganz armen Ländern. In Somalia während des Bürgerkriegs zum Beispiel stiegen die Geburtenziffern, weil die Menschen wenige Perspektiven jenseits einer großen Familie hatten und hofften, damit wenigstens etwas mehr an Sicherheit zu gewinnen.

Unterm Strich sind gesunkene Kinderzahlen ein Zeichen des Erfolgs der menschlichen Spezies: Weil es immer mehr Menschen immer besser geht und viele ihr Leben individuell planen können, sind sie mit kleineren Familien voll und ganz zufrieden. Für den Fall, dass sich die Kinderzahlen je Frau im globalen Schnitt bei 1,85 einpendeln würden, haben die Vereinten Nationen einmal eine Langfristprognose über die Zukunft der Weltbevölkerung erstellt. 1,85 entspräche in etwa dem Wert der skandinavischen Länder, wo die Lebensbedingungen weltweit zu den besten zählen, Familien gut versorgt sind, die soziale Gerechtigkeit auf hohem Niveau liegt und sich die Menschen überaus glücklich fühlen. In diesem Fall würde die Weltbevölkerung bis zum Jahr 2300 auf unter 2,5 Milliarden schrumpfen, auf rund ein Drittel des heutigen Werts. Diese Menschheit wäre im Schnitt älter als heute, schon aus diesem Grund deutlich friedlicher, sie wäre besser gebildet, würde weniger Schaden an der Umwelt anrichten und könnte besser mit den Umweltveränderungen umgehen, die heutige Generationen verursachen.

Die Vorstellung, all dies könnte geschehen, weil sich das Wohlergehen der Menschen weltweit verbessert, ist sicher angenehmer als jene, das Wachstum könnte auf katastrophale Weise begrenzt werden, nämlich indem die vielen Menschen irgendwann nicht mehr ausreichend versorgt und ernährt werden können, die Verteilungskonflikte zunehmen und deshalb die Sterblichkeit wieder steigt. 

Karte zusammengefasste Geburtenziffer 2010-2015

Karte zusammengefasste Geburtenziffer 2010-2015 © Le monde diplomatique

Autor: Reiner Klingholz ist geschäftsführender Direktor des Berlin-Instituts für Bevölkerung und Entwicklung.

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