Von Seveso bis Tschernobyl: die Ära der Industrie-Katastrophen

Mit der industriellen Revolution begann die Zerstörung der Umwelt. Seitdem kam es – parallel zu den schleichenden Prozessen von Luftverschmutzung, Entwaldung und Klimwandel – immer wieder zu katastrophalen Unfällen, vor allem in der Chemieindustrie.

Giftwolke über indischer Stadt

In der Nacht vom zweiten auf den dritten Dezember 1984 kam der Tod in Gestalt einer Giftwolke über die indische Stadt Bhopal. Aus einer Chemiefabrik des US-Konzerns Union Carbide (heute Dow Chemical) entwichen etwa 42 Tonnen des hochgiftigen Gases Methylisozyanid. Bereits innerhalb weniger Tage starben fast 5000 Menschen, insgesamt geht man heute von 20.000 Toten aus. 500.000 Einwohner von Bhopal atmeten das Gas ein. Die Folge waren Atemwegserkrankungen und Augenleiden, die bis zur Erblindung führten. Bhopal-Opfer gibt es auch in der zweiten Generation: Viele der direkt Betroffenen brachten Kinder mit Missbildungen zur Welt.

Bhopal – folgenreichste Unfall der Chemieindustrie

Da Union Carbide das Erdreich jahrelang mit Giftstoffen belastet hatte, finden sich im Boden rund um das Werksgelände noch heute Schwermetalle in einer Konzentration, die das natürliche Vorkommen bis zu sechs Millionen Mal übersteigt. Obwohl das Wasser gesundheitsgefährdend ist, nutzen es viele Anwohner als Trinkwasser – die Katastrophe dauert an. Bis heute gilt Bhopal als der folgenreichste Unfall der Chemieindustrie.

Tschernobyl – folgenschwerste Katastrophe der Kernenergiegewinnung

Zwei Jahre nach Bhopal, am 25. April 1986, ereignete sich in Block IV des Atomkraftwerks von Tschernobyl die bislang folgenschwerste Katastrophe im Bereich der Kernenergiegewinnung. Nach einem technischen Test kam es zur Kernschmelze, dem Super-GAU. Die Explosion schleuderte die 1000 Tonnen schwere Betonplatte über dem Reaktor in die Luft und schickte eine 170 Meter hohe Stichflamme in den Nachthimmel. 900 Tonnen Reaktorgraphit und 70 Tonnen Uran wurden freigesetzt und gingen über dem Reaktorgelände und den Städten der Umgebung nieder.

Die großen industriellen Umweltkatastrophen
Photo: © Le Monde diplomatique

Auswirkungen des Reaktorunglücks

Die Führung im Kreml verschwieg ihren Bürgern die Katastrophe und verhinderte damit eine zügige Evakuierung. Die Geheimhaltung aller Atomangelegenheiten hatte in der UdSSR Tradition. Erst die Perestroika brachte die Wahrheit ans Licht. Doch die Auswirkungen des Reaktorunglücks von Tschernobyl waren mit der Auflösung der UdSSR längst nicht überwunden. Erst 2006 sank die radioaktive Belastung in der Region auf ein »akzeptables« Niveau, obwohl sie nach wie vor deutlich über der natürlichen Hintergrundstrahlung liegt.

Bhopal und Tschernobyl sind die bis heute schrecklichsten und abschreckendsten Beispiele für das umweltpolitische Versagen zweier gesellschaftlicher Systeme: des Wirtschaftsliberalismus und des Kommunismus. Doch haben wir aus den Unfällen wirklich etwas gelernt?

Verschärfung der Sicherheitsbestimmungen für Industrieanlagen

Im norditalienischen Seveso in der Nähe von Mailand entwichen 1976 nach einer Kesselexplosion große Mengen Dioxin aus einer Chemiefabrik, die Desinfektionsmittel herstellte. Die Europäische Union reagierte auf den Chemieunfall durch die Verschärfung der Sicherheitsbestimmungen für Industrieanlagen.

Die Umsetzung dieser Normen ließ jedoch lange Zeit zu wünschen übrig. In Belgien hat sich die Zahl der Chemiefabriken, die mit Dioxin hantieren, bis zum Jahr 2000 trotz der EU-Normen von 82 auf 310 vervierfacht. Und in Frankreich kam es noch am 21. September 2001 in der Ammoniumnitrat-Fabrik AZF in Toulouse zu einer Explosion, die 30 Tote und etwa 2200 Verletzte forderte.

Schwere Unfälle in den asiatischen Ländern

Die Vorschriften, die in Brüssel seit dem Unglück von Seveso beschlossen wurden, gelten außerhalb der EU natürlich nicht. Gegenwärtig kommt es deshalb auch in den asiatischen Ländern, die die westliche Industrialisierung nachholen, zu den schwersten Unfällen.

Im Nordwesten Chinas leitete am 13. November 2005 eine petrochemische Fabrik mehrere hundert Tonnen krebserregender Stoffe in den Fluss Songhua ein, die den Unterlauf des Flusses und somit das Trinkwasser mehrere Städte verseuchten. Um die alte Wasserqualität des ohnehin schwer belasteten Flusses wieder herzustellen, wurde ein Fünfjahresplan mit einem Budget von einer Milliarde Euro beschlossen. Dieses Unglück zeigt, dass viele Regierungen nicht in der Lage sind, ihre Risiko-Industrien wirksam zu kontrollieren. Nur eine internationale öffentliche Aufsichtsinstanz könnte die Gefahr großer Industrieunfälle verringern.

Tankerunglücke – eine Gefahr für die Meere

Die größte Gefahr für die Meere ist die Ölpest. Die 40.000 Tonnen Heizöl, die im März 1989 beim Untergang des US-Tankers »Exxon Valdez« ausliefen, ließen 250.000 Seevögel verenden und belasteten das Ökosystem an den Küsten Alaskas über viele Jahre. Am 12. Dezember 1999 havarierte vor der französischen Küste der Tanker »Erika«, aus dem 37.000 Tonnen Rohöl in den Ärmelkanal flossen. Drei Jahre später verseuchten 77.000 Tonnen Öl des Tankers »Prestige« die nordspanische Küste.

Die »Erika« und die »Prestige« waren marode einwandige Tanker, die unter Billigflagge fuhren (Malta bzw. Bahamas). Die Billigflaggen-Länder (zu denen mit Malta und Zypern auch zwei EU-Staaten gehören) machen es den Reedern leicht, ihre Gewinne auf Kosten der Umwelt zu maximieren.

Diese Länder bieten nicht nur Steuervorteile, sondern haben auch laxe Sicherheitsvorschriften und noch laxere Kontrollen. Immerhin wurde auf EU-Ebene schon einiges getan, um maritime ökologische Katastrophen zu verhindern. Aber die Reedereien können unter der Flagge der Bahamas oder Liberias nach wie vor ihre Schrottschiffe in europäische Gewässer schicken.

Autor:

Ollivier Bailly, Journalist

Mehr Informationen zu dem Thema:

Bilder aus der Stadt neben Tschernobyl

Internationale Seeschifffahrtsorganisation

Quelle:
Atlas special - Klima,
Le Monde diplomatique.

© 2007

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