Die Geschichte der Beziehungen zwischen Russen und Tschetschenen ist eine Abfolge von dramatischen Ereignissen, von denen jedes die gegenseitige Wahrnehmung stark negativ geprägt hat. Das gilt vor allem für die Kolonialisierung im 19. Jahrhundert und für die Deportation der Tschetschenen im Februar 1944. Doch der aktuelle Konflikt lässt sich nicht allein durch die Vergangenheit erklären.
Im November 1991 nutzte der ehemalige Fliegergeneral Dschochar Dudajew die Krise in Moskau, um sich an die Macht zu bringen und Tschetschenien für unabhängig zu erklären. Dieser einzige Fall einer Sezession von der Russischen Föderation löste Ende 1994 die erste russische Intervention aus, die Moskau mit der Angst vor einem Dominoeffekt und dem Auseinanderbrechen des Landes begründete.
Die von Boris Jelzin befohlene »Wiederherstellung der verfassungsmäßigen Ordnung« wurde rasch zum richtigen Krieg, der achtzehn Monate dauerte und zehntausende Tote kostete.
Aslan Maschadow, der im August 1996 den Waffenstillstand unterzeichnete und Anfang 1997 nach einer von der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) beaufsichtigen Wahl das Präsidentenamt erlangte, konnte die quasi unabhängige Republik jedoch nicht stabilisieren. Ende 1999 begann im Namen der Terrorismusbekämpfung der zweite, noch blutigere Krieg, dieses Mal auf Befehl von Jelzins Nachfolger Wladimir Putin. Im März 2000 gewann er mit einem Law-and-Order-Programm die Präsidentschaftswahlen.
Nach dem 11. September 2001 setzte sich eine andere Lesart des Tschetschenienkonflikts durch: Hier war angeblich der »islamistische Terror« am Werk, und die zahlreichen Terroranschläge und vor allem die Selbstmordattentate gaben dieser Version immer neue Nahrung. Viele dieser Taten entsprangen allerdings keiner radikalislamistischen Überzeugung, sondern viel eher einer persönlichen und kollektiven Verzweiflung angesichts eines ausweglosen Konflikts.
Zwar sind die von Saudi-Arabien beeinflussten islamistischen Bewegungen seit Anfang der 1990er-Jahre im ganzen Nordkaukasus präsent und konnten ihre Reihen mit Kämpfern auffüllen, die aus Zentralasien und Afghanistan abzogen. Doch diese ausländischen Kämpfer sind nicht der einzige Machtfaktor.
Viel Einfluss haben auch einheimische radikale Islamistengruppen wie die Dschamaat, aber auch die nichtreligiösen Fraktionen des bewaffneten Kampfes sowie Vertreter des traditionellen Sufi-Islam, von denen einige eine gewisse Bereitschaft zum Bündnis mit Moskau zeigen.
Diese Risse innerhalb der tschetschenischen Gesellschaft hoffte der Kreml auszunutzen, als er im Juni 2000 eine moskaufreundliche tschetschenische Regierung installierte. Der ehemalige Mufti Achmed Kadyrow, der das Land im russischen Auftrag zuerst als Chef der Verwaltungsbehörde und dann als Präsident leitete, fiel im Mai 2004 einem Mordanschlag zum Opfer.
Seit 2004 sind jedoch Entwicklungen im Gange, die auf eine relative Stabilisierung hinauslaufen. Es fließen Entschädigungszahlungen (die freilich von Korruption begleitet sind), viele Flüchtlinge kehren zurück (allerdings oft unter Zwang), der aufgeblähte öffentliche Dienst dient mangels einer realen Wirtschaft als Beschäftigungspuffer. Die Hauptstadt Grosny gleicht zwar immer noch einem Trümmerfeld, und die Infrastruktur ist erst zum Teil wieder intakt, aber der Handel belebt sich wieder, was auch an Verkehrsstaus abzulesen ist.
Doch die innere Zerrissenheit und das Fehlen jeglicher kollektiven Perspektive können die Lage jederzeit umkippen lassen. Nach wie vor gibt es ständig militärische Scharmützel und Übergriffe auf Zivilisten. Die von Ramsan Kadyrow, dem Sohn des früheren Präsidenten, befehligten Tschetschenenmilizen der prorussischen Regierung verbreiten Angst und Schrecken.
Um die Lage im Griff zu behalten, setzt Moskau heute vor allem auf die Regierung von Präsident Alu Alchanow und auf das aus den Wahlen vom Oktober 2005 hervorgegangene Rumpfparlament. Doch vor allem hofft man auf ein Ermüden der Guerilla.
Dabei darf man allerdings die Strategie der islamistischen Gruppen nicht außer Acht lassen, die den Konflikt auf den gesamten nördlichen Kaukasus ausweiten wollen und in den Nachbarregionen immer mehr Überfälle organisieren. Solche Aktionen können die Region zwar nicht richtig destabilisieren, aber die Spannungen haben sie bereits erheblich verschärft.
Darüber hinaus dienen sie Präsident Wladimir Putin als Vorwand, um die Kompetenzen der Regionalbehörden zu beschneiden. Und das könnte auf längere Sicht durchaus die labile Balance gefährden, die die nordkaukasischen Republiken seit 1991 mit Moskau ausgehandelt haben.
Langfristige Auswirkungen hat der Tschetschenienkrieg aber auch in ganz Russland: Der Kampf gegen den Terror wird als Alibi benutzt, um immer mehr Bereiche der Gesellschaft der Kontrolle der Regierung zu unterwerfen. Dabei nimmt die staatliche Gewalttätigkeit ständig neue Formen an, von schikanösen »Gesichtskontrollen« der Polizei über rassistische Verbrechen bis hin zu brutalen Ausschreitungen von Soldatengruppen, die häufig auf das Konto von Tschetschenienveteranen gehen.
Als im März 2005 der frühere Präsident Maschadow ermordet wurde, der einen gemäßigten Unabhängigkeitskurs verfolgt und Verhandlungen mit Moskau befürwortet hatte, reagierte die internationale Öffentlichkeit darauf kaum.
In den Medien taucht Tschetschenien nur noch auf, wenn eine Tragödie wie die Geiselnahme von Beslan im September 2004 stattfindet. Weil der Konflikt als »innerrussische Angelegenheit« betrachtet wird, ist eine politische Lösung weiter entfernt als je zuvor.
Anne Le Huérou ist Soziologin und Koautorin von »Tchétchénie, une affaire intérieure? Russes et Tchétchènes dans l’étau de la guerre«, Paris (CERI/Autrement) 2005.
Quelle:
Atlas der Globalisierung,
Le Monde diplomatique.
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