Als »Gesellschaften im Übergang zur Marktwirtschaft« hat man die Länder des einstigen Ostblocks nach dem Fall der Berliner Mauer (1989) und der von Boris Jelzin 1992 verordneten wirtschaftsliberalen Schocktherapie bezeichnet. Das harmlose Etikett »Transformationsländer« sollte davon ablenken, wie widersprüchlich und brachial die weltweite Durchsetzung der kapitalistischen Ökonomie in der Praxis vonstatten ging.
Die alt/neuen Führungszirkel, die bei den ersten freien Wahlen innerhalb kürzester Frist ökonomische Effizienz und Gewerbefreiheit versprachen, betrieben im Grunde nur die Eingliederung ihrer Länder in den Prozess der Globalisierung – von der sie sich persönliche Vorteile versprachen.
Vielfach hatten diese Eliten vor allem eines im Sinn: ihre alten Privilegien durch den Zugriff auf das Staatseigentum in die neue Zeit hinüberzuretten. Die Beschäftigten durften sich zwar als »Aktionäre« fühlen, wurden in Wirklichkeit aber zur Manövriermasse einer Klasse von Oligarchen.
Fast alle neuen Volksvertreter, gleich welcher Couleur, setzten auf die Wirksamkeit der wirtschaftlichen Rezepte, die ihnen die internationalen Institutionen vorschlugen – allen voran der Internationale Währungsfonds (IWF) und die Kredite vergebenden Banken, aber auch die Europäische Kommission, die ja die EU-Beitrittskriterien formulierte.
In den Ländern, in denen der Zugang zu Bildung und Kultur Teil der »Sozialleistungen« gewesen war und die eine Grundversorgung mit Gütern des täglichen Bedarfs gewährleistet hatten (samt der Dienstleistungen der Großbetriebe mit ihren Kindergärten, Krankenhäusern und preiswerten Wohnungen), bedeutete der wirtschaftliche Kurswechsel einen sozialen Einbruch.
Unter dem Motto »weniger Staat« wurde die rücksichtslose Privatisierung der Staatsbetriebe und die Kommerzialisierung der Distribution von Gütern und Dienstleistungen eingeleitet. Wo früher Vollbeschäftigung im Rahmen der Planwirtschaft gewährleistet war, herrscht heute eine strukturelle Arbeitslosigkeit, und zwar auch in Ländern mit stetigem Wirtschaftswachstum.
Sie beträgt in den acht neuen EU-Mitgliedsländern durchschnittlich 15 Prozent; in Polen, Bulgarien und der Slowakei liegt sie zwischen 17 und 20 Prozent.
2002 stellte die Weltbank fest, dass in diesen Ländern »die Armut ein größeres Ausmaß und eine höhere Zuwachsrate erreicht hat als in der gesamten übrigen Welt«. In den zehn Jahren zwischen 1988 und 1998 stieg der Anteil der Bevölkerung, der unter der Armutsgrenze lebt, von 2 auf 21 Prozent.
Seitdem geht er jedoch wieder zurück: Die Zahl der Armen sank von 102 Millionen Menschen 1998 auf 61 Millionen im Jahr 2003. Dies resultiert vor allem aus dem starken Wachstum in Russland seit der Krise von 1998, während die Situation in den neuen EU-Ländern stagniert und sich in Polen und Litauen sogar verschlechtert hat.
Nach dem neoliberalen Credo hängt das Wirtschaftswachstum maßgeblich von der Höhe der ausländischen Direktinvestitionen (ADI) ab, die man ins Land zu ziehen vermag. Die Länder Ostmitteleuropas, die in dieser Hinsicht am erfolgreichsten sind, hatten aber gerade nicht die besten Ausgangsbedingungen. Es sind vielmehr die, in denen kriegerische Auseinandersetzungen vermieden wurden und die sich dem Privatisierungsdruck entzogen haben.
So hat sich etwa Slowenien, das unter den neuen EU-Mitgliedern das höchste Bruttoinlandsprodukt (BIP) pro Kopf verzeichnet, die Kontrolle über den Bankensektor erhalten und weder Löhne noch Steuern gesenkt. Entsprechend verzeichnet Slowenien mit 2 Prozent den niedrigsten Anteil der ADI am BIP.
Im Übrigen fließen die meisten ADI in die städtischen Ballungsräume, was die regionalen Unterschiede innerhalb der Länder sowie zwischen den Staaten weiter vergrößert. Das Sozial- und Fiskaldumping, mit dem ADI angezogen werden sollen, führt zu einem Typ von Wachstum, der in sozialer Hinsicht zunehmend problematisch ist.
Da die ausländischen Direktinvestitionen in den neuen EU-Ländern auf den Bankensektor konzentriert sind – außer in Slowenien sind in all diesen Staaten 50 bis 90 Prozent des Bankkapitals in fremder Hand –, gerät die Finanzierung von sozialen Maßnahmen zunehmend unter Druck.
Während politischer Pluralismus und die Ablösung von Regierungen inzwischen als normal gelten, folgte auf die Euphorie über die modellhafte Transformation eine große Ernüchterung. Dies zeigt sich symptomatisch an einem Land wie Polen, dessen Wachstum zunächst stark aufholte und wo die unterschiedlichsten Regierungsparteien im Namen der Eingliederung in die EU neoliberale Rezepte übernahmen. Heute regiert in Warschau eine dezidiert euroskeptische und ausländerfeindliche Rechte.
Insgesamt stellt sich die Osterweiterung als gesamteuropäische Erfolgsstory dar, zugleich aber auch als Strategie zur Dämpfung explosiver sozialer Konlikte in den Beitrittsländern. Und dies im Rahmen einer Union, von der die neuen Mitglieder in Zentral- und Osteuropa möglichst enge Bindungen an die USA erwarten.
Europäische Bank für Wiederaufbau und Entwicklung
Wiener Institut für internationale Wirtschaftsvergleiche
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Quelle:
Atlas der Globalisierung,
Le Monde diplomatique.
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