Häufig heißt es, dass die Gegner des Freihandels Autarkie einfordern, um die eigene, zu teure Produktion zu schützen. Umgekehrt werden die Öffnung gegenüber dem internationalen Handel und ein Wirtschaftsaufschwung wie der in Südkorea und China gern als Umsetzung der Freihandelsidee präsentiert.
Das verschleiert jedoch die wahre Bedeutung des Begriffs ebenso wie die Interessen, um die es eigentlich geht.
Freihandel setzt freien Wettbewerb voraus. Eine Einmischung des Staates findet nicht statt. Als Gegenstück kommt dann weniger die Autarkie als der kontrollierte Handel in Frage, wobei die Kriterien für die Kontrolle umstritten sind.
Ein hoher »Markterschließungsgrad« – d. h. ein hoher Anteil des Außenhandels im Verhältnis zur Produktion – kann mit intensiven Staatsinterventionen verbunden sein, wie eben in Südkorea und China, wo der »Protektionismus« Wachstum schuf. Diesen Weg gingen letztlich alle heutigen Industrienationen, wenngleich die herrschende Geschichtsschreibung zum Welthandel dies gern übersieht.
England schaffte in den 1840er-Jahren die corn laws ab, die bis dahin die britische Getreideproduktion geschützt hatten, und folgte damit dem Rat des bedeutendsten Theoretikers des Freihandels, David Ricardo. Zuvor hatte das Land wie die anderen großen Handelsmächte Merkantilismus betrieben, d. h. auf Handelsüberschüsse gesetzt, die als reichtumsmehrend betrachtet wurden und Importe erschwerten.
Starke Staaten und bedeutende Kaufleute, die Fernhandel trieben, eroberten mit Waffengewalt die »neue Welt« und kontrollierten die wichtigen Routen des neu entstehenden Welthandels. Im Grunde optierten sie für eine Politik des Protektionismus, die in Westeuropa wie in den USA und später auch in Japan zur Grundlage der Industriellen Revolution wurde und zum schnellen Wachstum des internationalen Warenverkehrs führte.
Die »Freihandelsthese« wurde im Zentrum der bedeutendsten Industrie- und Kolonialmacht der Zeit formuliert, und sie galt als Reaktion auf eine schwere Profitkrise. Ricardo, der die sinkende Bodenrendite analysierte, formulierte bereits vor Karl Marx die These vom tendenziellen Fall der Profitrate. England opferte seine Weizenproduktion und bemühte sich um den Import von preiswerteren Rohstoffen, um wieder Profit zu machen.
Die These vom Freihandel wurde von ihren Vertretern als »universell« präsentiert: Jedes Land würde von ihr profitieren, wenn es sich »frei«, also nur aus wirtschaftlichem Anreiz und ohne jeden herrschaftlichen Zwang auf die Sektoren spezialisierte, in denen es einen »Wettbewerbsvorteil « genieße. Kredite oder Investitionen reicher Länder müssten den armen Ländern ermöglichen, Waren aus den entwickelten Staaten zu kaufen. Die Rückzahlung der Schulden könnte über Exporte erfolgen.
Bereits im 19. Jahrhundert wurde diese These sowohl in den USA als auch in Deutschland als heuchlerisch kritisiert. Beide Länder wuchsen zu ernsthaften wirtschaftlichen Konkurrenten heran und wiesen darauf hin, dass England die Abschaffung des Protektionismus erst forderte, als es seine beherrschende Stellung schon innehatte.
Doch während die USA, Deutschland oder Japan sich auch gegenüber den größten Mächten Europas schützten, begannen sie wie zuvor Großbritannien damit, im Rahmen ihrer imperialistischen Expansion die von ihnen beherrschten Länder zu zwingen, ihren Schutz aufzugeben. Man nannte diese erzwungene Öffnung der Märkte der Länder »Freihandel«, obwohl die Metropolen über Staatsinterventionen periodische Krisen und soziale Unruhen eindämmen mussten.
Die Revolutionen des 20. Jahrhunderts in den Ländern der Dritten Welt wollten mit der Abhängigkeit, die sie in Unterentwicklung hielt, brechen. Der Kalte Krieg zwischen den Systemen förderte die Entkolonialisierung und den Widerstand gegen die herrschenden Mächte. Die interventionistische Politik sowohl in Diktaturen als auch in Konsumgesellschaften unterwarf den internationalen Handel machtpolitischen Erwägungen, ohne dass die Bevölkerung irgendwo tatsächlich eine Wahl gehabt hätte.
In den 1970er-Jahren wurden die diesem Wachstumsmodell innewohnenden Widersprüche evident. Die USA verloren ihre Hegemonie und waren mit einer Profitkrise konfrontiert. So setzten sie den »freien Wettbewerb« auf ihre politische Tagesordnung.
Und im Hintergrund dieses Diskurses, der im Gegensatz zum machtbetonten Protektionismus anderer Großmächte stand, ist es multinationalen Konzernen in kurzer Zeit gelungen, ein Drittel des Welthandels zu organisieren und ihre Produktionsstätten und Büros dorthin zu verlagern, wo sie vergleichsweise wenig Steuern und Abgaben und niedrige Löhne und Gehälter zahlen müssen – in einer Welt, in der es für sie keine Grenzen mehr gibt.
Catherine Samary ist Professorin für Wirtschaft an der Universität Paris-Dauphine und Autorin u.a. von „Die Zerstörung Jugoslawiens. Ein europäischer Krieg“, Köln 1995, sowie (zs. mit Jean-Arnault Dérens) „Les Conflits yougoslaves de A à Z“. Geschichte, Staaten, Wirtschaft, Ethnien, Organisationen und Personen“, Köln, Neuer ISP Verlag, erscheint in Kürze).
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