Dass in Lateinamerika das neoliberale Modell auf breiter Front abgelehnt wird, hat viele Gründe: die Armut (225 Millionen Menschen oder 43,9 Prozent der Bevölkerung leben unterhalb der Armutsgrenze), die riesigen Defizite im Gesundheits- und Bildungswesen, die ungleiche Einkommensverteilung, die allen Wohlstand bei einer schwerreichen Oberschicht konzentriert.
Solche Verhältnisse provozieren aber auch Widerstand an der Basis, sei es in Form von Massendemonstrationen, sei es als aufständische Aktionen. In letzter Zeit haben die sozialen Bewegungen in fünf Ländern dazu beigetragen, dass Präsidenten abgewählt wurden, die für den volkswirtschaftlichen Bankrott (Argentinien 2000), für eine gegen das Volk gerichtete Politik (Ecuador 1997 und 2005) oder für die Privatisierung von Wasser und Gas (Bolivien 2003 und 2005) verantwortlich waren.
Dieser Widerstand entwickelte sich zumeist außerhalb der diskreditierten traditionellen Parteien, die weder eine akzeptierte politische Ideologie noch Rückhalt in der Bevölkerung haben.
In Washington und in den konservativen Kreisen Lateinamerikas wird diese Entwicklung als Aufstieg eines »radikalen Populismus« denunziert. Unter dieser Bezeichnung fasst man alle politischen Strömungen zusammen, die sich der neoliberalen Strategie widersetzen, wie auch alle Verfechter eines lateinamerikanischen Modells partizipatorischer Demokratie und das Auftreten politischer Führer, die dieses Modell propagieren – allen voran der venezolanische Präsident Hugo Chávez.
Obwohl die Regime Kubas und Venezuelas keinerlei Gemeinsamkeiten aufweisen, repräsentieren Hugo Chávez und Fidel Castro innerhalb dieser Konfliktkonstellation den radikalen Pol. Im Zentrum der »bolivarischen« Konzeption, die in Venezuela entwickelt wird, steht die Vision eines demokratischen Lateinamerika.
Die einzelnen Staaten sollen sich zu einem unabhängigen Block fügen, der als sein politisches Hauptziel definiert, die sozialen Ungleichheiten auf dem Subkontinent abzubauen. Dieses Projekt, das Chávez als »neuen Sozialismus« bezeichnet, will er mittels der »Bolivarischen Alternative für Amerika« (Alba, für: Alternativa Bolivariana para la America) realisieren.
Sollte diese Initiative Erfolg haben, wäre dies ein schwerer Schlag gegen das von Washington geförderte Projekt einer Gesamtamerikanischen Freihandelszone (FTAA/ ALCA), das eine vollständige »Öffnung« nicht nur aller Wirtschaftsbereiche, sondern auch des Gesundheits- und Bildungswesens vorsieht.
Obwohl Washington für diesen Plan die Unterstützung seiner Bündnispartner hat (Mexiko, die Staaten Zentralamerikas, Chile, Kolumbien, Peru und bis vor kurzem auch Ecuador und Bolivien), ist es den USA bislang nicht gelungen, diesen »großen kontinentalen Markt« praktisch durchzusetzen.
Mehrere Länder Lateinamerikas haben inzwischen Mitte-links- oder auch linke Regierungen: Argentinien mit der Wahl des Präsidenten Nestor Kirchner, Brasilien mit der Wahl von Luiz Inácio »Lula« da Silva, Uruguay mit Präsident Tabaré Vasquez, Panama mit Martín Torrijos und Bolivien mit Präsident Evo Morales.
Dass die neu gewählten Präsidenten die Nähe zu Hugo Chávez suchen und sich dem Wunsch des US-Außenministeriums verweigern, den venezolanischen Präsidenten zu isolieren, hat weniger mit ihrer rechten oder linken Orientierung zu tun als damit, dass sie auf das Konzept eines Wirtschaftsnationalismus setzen.
Die neue Konstellation hat dazu geführt, dass sich die USA im Mai 2005 in der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) zum ersten Mal seit deren Gründung nicht durchsetzen konnten, als der Chilene Miguel Insulza gegen den Willen Washingtons zum Generalsekretär gewählt wurde.
Die USA haben nach ihrem Scheitern in Kolumbien, wo die letzten Guerillagruppen ihren Kampf weiter fortsetzen, den venezolanischen Präsidenten Chávez zum »Sündenbock« erklärt. Das ist verständlich, denn die in Caracas umgesetzten Sozialreformen sind eine große Inspiration für die Rebellenbewegungen der gesamten Region. Zugleich aber ist Venezuela als zweitgrößter Erdöllieferant der USA (und fünftgrößter der Welt) für Washington von großer strategischer Bedeutung. Dasselbe gilt für Länder mit bedeutenden Erdöl- und Erdgasvorkommen wie Mexiko, Kolumbien, Ecuador und Bolivien.
Das Pentagon unterhält deshalb weiterhin eine starke Militärpräsenz in der Andenregion und in Mittelamerika. Unter dem Vorwand der »Terrorismusbekämpfung « beschwört es die Gefahr, die von bewaffneten nichtstaatlichen Akteuren ausgeht (Guerilla, Mafia, Drogenhändler, kriminelle Banden, internationale Terrorgruppen).
Beunruhigt zeigt sich Washington auch über das Erstarken von Bewegungen der indigenen Bevölkerung in Mexiko, Ecuador, Bolivien und Chile, die sich mit radikalisierten Gruppen der Gesellschaft verbünden könnte, etwa mit der Bewegung der Landlosen in Brasilien, Paraguay und Ecuador, mit den argentinischen Piqueteros – organisierten Gruppen von demonstrierenden Arbeitslosen –, mit den Globalisierungsgegnern usw.
Dennoch ist es den USA nicht gelungen, den Lateinamerikanern ein neues Konzept präventiver Sicherheit aufzudrücken oder die Gründung einer multinationalen Eingreiftruppe unter dem Kommando des Pentagon durchzusetzen. Einen solchen Vorschlag haben Venezuela, Brasilien und Argentinien zurückgewiesen, und zwar unter Berufung auf ihre nationale Souveränität wie auch mit dem Hinweis auf das Prinzip der Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten anderer Länder.
Maurice Lemoine ist Chefredakteur von «Le Monde diplomatique» und Autor u.a. von «Chávez presidente!» Paris (Flammarion) 2005.
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Quelle:
Atlas der Globalisierung,
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