Nördlich von Vavuniya endet die Autorität des Staates Sri Lanka. Hier beginnt das Verwaltungsgebiet der Liberation Tigers, der Befreiungstiger, die mit unverhohlener Genugtuung von sich behaupten: »Wir sind ein expandierender Staat.« Ein gnadenloser »Staat«, der Kindersoldaten rekrutiert, seine inneren Gegner eliminiert und seinen Chef und Gründer Vellupillai Prabhakaran zur öffentlich angebeteten Kultfigur erhoben ha
Von der britischen Kolonialmacht gefördert, befanden sich die hinduistischen Tamilen – 18 Prozent der Bevölkerung gemäß der Volkszählung von 1981 – nach der Unabhängigkeit 1948 in einer heiklen Lage: Sie waren eine Minderheit, die von der Kolonialherrschaft profitiert hatte. Der neue Staat wurde nun von der buddhistischen singhalesischen Mehrheit beherrscht, die den Tamilen keine Chance gab.
Diese versuchten vergebens, sich gegen ihre Diskriminierung mit parlamentarischen Mitteln zu wehren. Unter dem Eindruck von Pogromen griff die nach der Unabhängigkeit geborene Generation zu den Waffen und schuf eine gefürchtete Guerilla – die Liberation Tigers of Tamil Eelam (LTTE).
Für die große Masse der Tamilen sind die Tiger eine diktatorische Gewalt geworden, der sie ihre Sicherheit und ihre Emanzipation als Volk anvertraut haben. Dafür haben sie alte individuelle Freiheiten wie auch Rechtssicherheit und politischen Pluralismus aufgegeben.
Im Jahr 2003 haben die meisten tamilischen Parteien die Befreiungstiger als ihre einzigen Repräsentanten anerkannt. Wer die Unterwerfungsgeste verweigerte, wurde von der Guerilla bedroht.
Die breite Masse der Singhalesen ist überzeugt, das kulturelle Erbe des Theravada-Buddhismus zu hüten und gegen eine indische Welt, der sie die Tamilen zurechnen, verteidigen zu müssen. Aber Neu-Delhi lehnt die Idee eines separaten Tamilenstaats in Sri Lanka entschieden ab. Im südindischen Bundesstaat Tamil Nadu, wo die LTTE ihre Nachhut-Basis hatten, leben 50 Millionen Tamilen.
In Sri Lanka gibt es zwar auch Christen, aber sie spielen in dem Konflikt keine besondere Rolle. Die Muslime, auch Moors genannt, stellen 7 Prozent der Inselbevölkerung und sind die großen Verlierer. Sie sprechen Tamil, fühlen sich aber als Sri-Lanker. Sie leben vor allem in der Umgebung von Batticaloa und Trincomalee, einem der besten Naturhäfen Asiens. Sie werden wegen ihrer gesellschaftlichen Stellung beneidet und von den Tigern der Kollaboration mit der Regierung in Colombo bezichtigt.
Um nicht unter deren Fuchtel zu leben, fordert die muslimische Minderheit ein eigenes föderales Gebiet nach dem Muster des indischen Unionsterritoriums Pondicherry, das als ehemalige französische Kolonie über ein eigenes Parlament und eine eigene Regierung verfügt.
Bei den Friedensverhandlungen haben die LTTE zwar auf die Forderung nach einem separaten Staat verzichtet und einer föderativen Lösung zugestimmt. Aber ihr Vorschlag einer Interimsverwaltung, bei der Colombo nicht mitzureden hätte, ging weit über den Rahmen eines autonomen Status hinaus. Damit kam der Friedensprozess ins Stocken.
Aus Angst vor einer Teilung der Insel hat sich auch die singhalesische Mehrheit zunehmend radikalisiert. Bei den Parlamentswahlen von 2004 verlor der neoliberale Premierminister Ranil Wickremasinghe, der als zu nachgiebig gegenüber den Tigern galt, gegen ein nationalistisches Bündnis unter Führung von Staatspräsidentin Chandrika Kumaratunga, dem sich die Kommunisten der JVP und eine Fraktion buddhistischer Mönche anschlossen.
Am 17. November 2005 wurde der »Falke« Mahinda Rajapakse, bis dahin Premierminister, in aufgeheizter Atmosphäre mit der knappen Mehrheit von 50,3 Prozent gegen die »Taube« Wickremasinghe zum neuen Staatspräsidenten gewählt.
Geschwächt sind die LTTE inzwischen durch die Abspaltung des für den Osten zuständigen Tiger-Kommandanten Karuna, durch den wahrscheinlich von den LTTE verübten Mord an dem sri-lankischen Außenminister und Hardliner Kadirgamar im August 2005 und durch die sukzessive Ausschaltung der norwegischen Regierung, dem langjährigen Vermittler zwischen den Kriegsparteien. Die singhalesische Seite hatte Oslo aber für zu guerillafreundlich gehalten.
Von seinen Bündnispartnern, den Kommunisten und den Mönchen an die Kandare genommen, ignorierte der neue Präsident das föderale Modell und steuerte damit auf die Wiederaufnahme der militärischen Auseinandersetzung zu.
Auch die schlimmste Katastrophe in der Geschichte der Insel, der Tsunami vom 26. Dezember 2004 mit über 38.000 Toten, ließ die Volksgruppen nicht zusammenrücken, sondern hat den Konflikt im Gegenteil noch weiter verschärft.
Jede Seite warf der anderen vor, die internationale Hilfe zu monopolisieren. Als endlich als Ergebnis zäher Verhandlungen zwischen Colombo und den LTTE eine Vereinbarung zur Aufschlüsselung der Hilfsgelder erzielt war, wurde es vom Obersten Gerichtshof für ungültig erklärt.
Sri Lanka verfügt mit seiner hohen Alphabetisierungsrate von über 92 Prozent der Erwachsenen (Indien: 61,3 Prozent) über ein starkes Entwicklungspotenzial. Doch nach zwanzig Jahren Krieg und 60.000 Toten hängt die Zukunft der Insel allein von der Fähigkeit der Kriegsparteien ab, einen föderalen Kompromiss zu finden.
Cédric Gouverneur,Journalist.
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Quelle:
Atlas der Globalisierung,
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