Nirgendwo sind mehr UN-Blauhelme unterwegs als in Afrika. Von weltweit 103.883 militärischen und zivilen Mitarbeitern von Friedensmissionen sind nach UN-Angaben (Stand November 2018) 88.041 in afrikanischen Ländern stationiert. Blauhelmmissionen mit jeweils fünfstelligen Truppenzahlen operieren in der Demokratischen Republik Kongo, in Mali, im Sudan, Südsudan und in der Zentralafrikanischen Republik. Nirgendwo sonst auf der Welt sind UN-Missionen mit einem Mandat zur Gewaltanwendung unterwegs. Und 60 Prozent aller Resolutionen des UN-Sicherheitsrats betreffen Afrika. Afrika ist ein Exerzierfeld für multilateral organisiertes Peacekeeping geworden.
Das ist bereits seit einem guten Vierteljahrhundert so – seit dem Ende der Ost-West-Konfrontation Anfang der 1990er Jahre, als sich die USA und die Sowjetunion als militärische Schirmherren ihrer jeweiligen Verbündeten zurückzogen. Nachdem daraufhin reihenweise Staaten im Krieg versanken, wurden neue Rufe nach einem internationalen, aber unbedingt neutralen Eingreifen laut. Aber die Zeiten, in denen die Vereinten Nationen sich als Paten beim Neuaufbau fragiler Staaten wähnten und als die eigentlichen Machthaber in Bürgerkriegsländern auftraten, sind längst vorbei. Überall in Afrika sind UN-Missionen heute wieder auf dem Rückzug – wenn nicht quantitativ, dann zumindest in ihren Ansprüchen.
Dabei waren Anfang der 1990er Jahre die Ansprüche noch relativ bescheiden, als die ersten UN-Beobachtermissionen ausschwärmten, um in Ermangelung einer anderen neutralen Instanz Waffenstillstände und Friedensprozesse zwischen Regierungen und Rebellen zu überwachen: in Angola ab 1989, in Somalia ab 1992, in Mosambik, Liberia und Ruanda ab 1993. Nur in Mosambik ging der Krieg zu Ende. Dass die von Südafrika unterstützte Rebellenarmee Renamo die Waffen vor der früheren sozialistischen Befreiungsbewegung Frelimo streckte, lag aber weniger an der UNO als daran, dass das Apartheidregime in Südafrika selbst zu Ende ging und der Renamo damit die Förderung wegbrach. Die anderen Länder – Angola, Liberia, Ruanda, Somalia – wurden hingegen in den 1990er Jahren Inbegriff für schreckliche Bürgerkriege und unfassbare Verbrechen bis hin zum Völkermord. Und die UN-Einheiten sahen tatenlos zu.
Das hätte eigentlich jenen Strategen zu denken geben müssen, die davon ausgingen, internationale Militärinterventionen könnten afrikanische Staaten stabilisieren, und zwar je größer und anspruchsvoller, desto nachhaltiger. Aber UN-Großeinsätze kamen in Mode, vor allem um die Jahrtausendwende: in Sierra Leone und in der Elfenbeinküste, in Mali und in der Zentralafrikanischen Republik, in der Demokratischen Republik Kongo und in Burundi, in Sudans Unruheregion Darfur und im Südsudan. Einige davon sind schon wieder Geschichte, aber alle krankten daran, dass sie hochfliegende Pläne verfolgten, die der schmutzigen Realität nicht gewachsen waren.
Die Blauhelme in Sierra Leone, die sich zu Hunderten von Rebellen entführen ließen; die Blauhelme im Kongo oder in der Zentralafrikanischen Republik, die sexuellen Missbrauch an Kindern begingen; die Blauhelme in Mali und im Südsudan, die gerade mal ihre eigenen Stützpunkte schützen und nichts gegen die Gräueltaten ausrichten können: Sie alle sind Anschauungsmaterial dafür, dass die Vereinten Nationen ihren guten Ruf in afrikanischen Konfliktgebieten weitgehend verspielt haben.
Das gilt auch dort, wo sie nach Jahren des Zauderns dann doch die nötigen Mandate, Ausrüstungen und Einsatzbefehle zur Gewaltanwendung erhielten. Doch ausländische Kampftruppen sind im kongolesischen Dschungel, wo sie sich weder auskennen noch mit irgendeinem Einheimischen ohne Dolmetscher reden können, nicht in der Lage, Opfern von Massenvergewaltigungen effektiven Schutz zu bieten und unter unzähligen Selbstverteidigungsmilizen genau jene ausfindig zu machen und zu neutralisieren, die für die schlimmsten Verbrechen verantwortlich sind.
Die vielfach bezeugte Ineffektivität vieler UN-Truppen, vom Nichteingreifen gegen den Völkermord in Ruanda 1994 bis zur Untätigkeit gegenüber Massakern in Mali 2019, bestätigt den zunehmend von afrikanischen Regierenden gepflegten Diskurs, der »afrikanische Lösungen für afrikanische Probleme« empfiehlt und Einmischung von außerhalb Afrikas in innere Angelegenheiten afrikanischer Staaten grundsätzlich als neokoloniale Anmaßung ablehnt. Ein afrikanischer Souveränismus hat sich ausgebreitet, der den Anspruch erhebt, auf der Weltbühne auf Augenhöhe mitzuspielen, und höchst allergisch auf Ratschläge und Mahnungen weißer Diplomaten, Helfer, Militärs und Entwicklungspolitiker reagiert. Das moderne Afrika des 21. Jahrhunderts will kein Übungsplatz für die Selbstverwirklichung und Machtentfaltung fremder Mächte mehr sein.
UN-Missionen stehen da auf der falschen Seite der Front: Sie setzen um, was der UN-Sicherheitsrat vorgibt, in dem kein afrikanisches Land ein Vetorecht innehat und dessen Afrika-Resolutionen zumeist von Frankreich geschrieben werden, das auch schon seit Jahrzehnten die für Blauhelmeinsätze zuständige UN-Abteilung für Friedenssicherung (DPKO) leitet. Es gehört zum guten Ton eines selbstbewussten Auftretens afrikanischer Politiker, UN-Missionen zum Abzug aufzufordern und sie generell als lästiges Übel darzustellen, als Symptom einer innenpolitischen Krise, zu deren erfolgreichen Überwindung eben der Abzug aller fremden Kräfte gehört.
Regierungen wie die von US-Präsident Donald Trump greifen das dankbar auf als Bestätigung ihrer Forderung, die Haushaltsmittel für die Vereinten Nationen zu kürzen. Alle UN-Blauhelmmissionen in Afrika sehen sich mit Budgetkürzungen und Debatten über ihre Verkleinerung konfrontiert. Begründet wird das mit ihrer geringen Effizienz, aber dieses Problem wird durch diesen Diskurs eher noch verstärkt. UN-Missionen – nicht nur, aber eben vor allem in Afrika – sind nicht mehr attraktiv für die Karriereplanung. Im Apparat einer Blauhelmtruppe zu arbeiten, ist kein Sprungbrett für eine diplomatische Karriere ambitionierter Absolventen mehr, sondern eher ein Schonposten für altgediente Routiniers vor dem Ruhestand.
An die Stelle klassischer Peacekeeping-Missionen in afrikanischen Staaten tritt damit zunehmend ein anderes Konzept: ausländische Hilfe zum Aufbau und zur Ertüchtigung der bestehenden Streitkräfte der betroffenen Staaten und auch zum Aufbau regionaler Eingreiftruppen aus mehreren afrikanischen Ländern, um ein gemeinsames Sicherheitsproblem zu lösen.
Paradebeispiel dafür ist die Amisom-Mission der Afrikanischen Union (AU) in Somalia, wo Soldaten aus Uganda, Burundi, Dschibuti, Äthiopien und Kenia die international anerkannte Regierung in Somalias Hauptstadt Mogadischu unterstützen und gegen die islamistischen Shabaab-Rebellen in anderen Landesteilen kämpfen. Ein ähnliches, wenngleich in der Praxis nach wie vor wenig funktionales Konzept liegt der Eingreiftruppe »G5-Sahel« zugrunde: Mauretanien, Mali, Burkina Faso, Niger und Tschad stellen jeweils Soldaten für eine faktisch von Frankreich geführte Antiterrortruppe, die gegen die zunehmend grenzüberschreitende Gewalt islamistischer Untergrundkämpfer vorgehen soll.
Beide Truppen sind Lieblingsprojekte der EU-Politik in Afrika. Sie rücken auch die AU sowie afrikanische Regionalorganisationen in den Vordergrund, anstelle eines entrückten UN-Apparats im fernen New York. Wenn dieser Trend sich fortsetzt, wird die Ära großer UN-Missionen in Afrika bald der Vergangenheit angehören.
Autor:
Dominic Johnson; Afrika-Redakteur der taz.
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