Die Morning Star Company wurde 1970 in der kalifornischen Kleinstadt Williams im Herzen des Sacramento Valley gegründet. Heute stellt das Unternehmen in drei gigantischen Fabriken 12 Prozent des weltweit konsumierten Tomatenmarks her. Allein in Williams werden stündlich 1.350 Tonnen frische Tomaten zu Konzentrat verarbeitet. Das Waschen, Zerkleinern und Eindampfen ist komplett automatisiert. Ständig rollen Sattelschlepper mit je zwei Tomatencontainern auf das Firmengelände. Gearbeitet wird in drei 8-Stunden-Schichten mit jeweils nur 70 Leuten. Die meisten Arbeitskräfte und auch viele leitende Angestellte wurden durch Maschinen und Computer ersetzt. Die Verarbeitung des Rohstoffs Tomate bringt verschiedene Qualitäten von Tomatenmark hervor, das in Containerschiffen nach Europa gelangt.
In den riesigen Konservenfabriken von Neapel, die den europäischen Großhandel fast exklusiv mit der Dosenware beliefern, lagert fässerweise Tomatenmark aus Kalifornien, aber auch aus China. Ob in Skandinavien, Osteuropa, auf den Britischen Inseln oder in der französischen Provence, überall wird das Konzentrat in Fertiggerichten wie Ratatouille, Tiefkühlpizza oder Lasagne verarbeitet. Mit Grieß oder Reis vermischt, wird die dunkelrote Paste inzwischen auch in vielen traditionellen Gerichten verwendet, etwa im klassischen westafrikanischen Eintopfgericht Mafé oder in der maghrebinischen Chorba oder der spanischen Paella.
Tomatenmark ist heute das am weitesten verbreitete Industrieprodukt. Man findet es auf den Tischen der schicken Restaurants von San Francisco wie auf den Marktständen in den ärmsten Dörfern Afrikas, wo es zuweilen, wie etwa im Norden Ghanas, löffelweise für ein paar Eurocent verkauft wird. Alle Welt verzehrt Industrietomaten. 2016 wurden 38 Milliarden Kilogramm des roten Fruchtgemüses verarbeitet oder in Konservendosen abgefüllt. Das entspricht rund einem Viertel der Gesamtproduktion. 2016 hat jeder Bewohner der Erde im Durchschnitt 5,2 Kilo verarbeitete Tomaten konsumiert. Ob Junkfood oder Mittelmeerküche, Tomaten sind immer dabei. Das Nachtschattengewächs kennt keine kulturellen oder ernährungsphysiologischen Grenzen. Es ist überall willkommen. Die einst von Fernand Braudel in seiner Sozialgeschichte des 15. bis 18. Jahrhunderts beschriebenen Weizen-, Reis- und Mais kulturen wurden im ausgehenden 20. Jahrhundert von einer einzigen abgelöst – der Tomatenkultur.
Ein Produkt dieser Kultur ist der Tomatenketchup, der zwar rot ist, aber nicht wirklich nach Tomate schmeckt. Der Grund: Ketchup enthält je nach Rezept nur zwischen 6 Prozent und 30 Prozent Tomatenmark – bei einem durchschnittlichen Zuckeranteil von 25 Prozent. In den USA wird der Zuckersirup vor allem aus Genmais gewonnen, der billiger ist als Rohr- oder Rübenzucker. Der Glukose-Fruktose-Sirup, der in vielen industriell hergestellten Nahrungsmitteln verarbeitet wird, gilt inzwischen als ein Hauptverursacher der epidemischen Fettleibigkeit. In den schlechtesten Ketchups stecken große Mengen genmanipulierter Stärke, aber auch Verdickungs- und Geliermittel wie Xanthangummi (E 415) oder Guargummi (E 412).
Die Technologie zur Herstellung von Tomatenmark, die heute noch in aller Welt nahezu unverändert zum Einsatz kommt, wurde einst in der Emilia-Romagna erfunden. Als Ende des 19. Jahrhunderts Millionen Italiener emigrierten, hatten sie auch die italienische Küche mit ihren vielen Tomatenrezepten im Gepäck. Die Auswanderungswelle kurbelte den Export italienischer Tomaten nach Argentinien, Brasilien und in die USA an. Im italienischen Faschismus (1922 bis 1943) wurde die Konservendose dann zum Symbol einer vom Futurismus inspirierten Kulturrevolution, die das urbane Leben, die Maschinisierung des Alltags und den Krieg verherrlichte. Das Tomatenmark aus der Dose als Nahrungsmittel des »neuen Menschen« schlug für die Faschisten eine Brücke zwischen Ingenieurwissenschaft, Industrieproduktion und Patriotismus, weil in ihm konserviert wurde, was die Böden Italiens hervorgebracht hatten.
1940 fand in Parma die erste »Autarke Ausstellung von Konservendosen und -verpackungen« statt. Auf dem Deckblatt des Ausstellungskatalogs prangte eine Konservendose, auf der das Wort »Autarchia« eingeprägt war. Autarkie in der Landwirtschaft – das war das Ziel, und so setzte das Regime vor allem auf die Weiterentwicklung und Rationalisierung der Tomatenindustrie. Zu Symbolen des Konsumkapitalismus – ähnlich wie die 1916 gestaltete Coca-Cola-Flasche – wurden zwei US-amerikanische Behältnisse von Tomatenprodukten: die Suppendose von Campbell, die Andy Warhol in seinem berühmten Pop-Art-Siebdruck Anfang der 1960er Jahre zur Ikone verewigt hat, und die achteckige Ketchup-Flasche von Heinz. Beide wurden schon im 19. Jahrhundert entworfen. Von der Heinz-Flasche werden inzwischen jährlich weltweit 650 Millionen Stück verkauft.
Noch bevor Henry Ford 1913 sein erstes Automodell (Tin Lizzie) am Fließband herstellen ließ, produzierten die Heinz-Fabriken in Pittsburgh (Pennsylvania) schon automatisch gefertigte Dosen mit weißen Bohnen in Tomatensauce. Auf Fotografien aus dem Jahr 1904 sieht man Arbeiterinnen in Heinz-Uniformen am Fließband stehen. Ein Jahr später verkaufte das Unternehmen bereits 1 Million Flaschen Ketchup. 1910 produzierte es 40 Millionen Konservendosen und 20 Millionen Glasflaschen. Damals war Heinz der größte multinationale Konzern der USA.
In den 1980er Jahren begann für die Tomatenverarbeitung eine neue Phase. Die Erfindung aseptischer Verpackungen, deren spezielle Behandlung die Entwicklung von Mikroorganismen verhindert, machte nun den interkontinentalen Handel mit Lebensmitteln möglich. Die großen Nahrungsmittelkonzerne wie Heinz oder Unilever gingen zunehmend dazu über, die Tomatenverarbeitung an Subunternehmer auszulagern. Seitdem decken sich die Ketchup-, Suppen- und Pizzamultis direkt bei Lieferanten ein, die riesige Mengen von industriellem Tomatenmark zu Billigpreisen anbieten. In Kalifornien, China und Italien verarbeitet eine Handvoll Megakonzerne die Hälfte aller weltweit produzierten Industrietomaten. Die Niederlande sind heute dank der gigantischen Heinz-Fabrik in Elst der größte Ketchup- und Saucenexporteur Europas, obwohl im Lande selbst keine Industrietomaten mehr produziert werden.
So stammt das Tomatenmark in Saucen, die aus den Niederlanden oder Deutschland kommen, aus verschiedenen Regionen der Welt, etwa aus Kalifornien, Europa oder China. Das ändert sich je nach Jahreszeit, Wechselkurs, Lagerbeständen und Ernteerträgen. Obwohl Kalifornien weltweit das meiste Tomatenmark produziert, sind in dem US-Bundesstaat nur zwölf Verarbeitungsbetriebe ansässig, die aber allesamt riesig sind. Sie beliefern praktisch den gesamten nordamerikanischen Markt, exportieren aber auch nach Europa, wo ihre Produkte mitunter billiger sind als italienisches oder spanisches Tomatenmark.
Anders als die für den Frischmarkt bestimmten Tomaten müssen die als »Industrietomaten« bezeichneten Buschtomatensorten nicht abgestützt und festgebunden werden. Sie werden ausschließlich auf dem freien Feld angebaut, wo sie unter dem reichlich vorhandenen und kostenlosen Sonnenlicht reifen (was sie von den ganzjährig reifenden Gewächshaustomaten unterscheidet). In Kalifornien beginnt die Ernte teilweise schon im Frühling und endet wie in der Provence im Herbst.
Seit den 1960er Jahren werden Industrietomaten genetisch »verbessert«, um ihre Weiterverarbeitung zu erleichtern. Zum Beispiel ist es durch Einschleusung eines Gens gelungen, die manuelle Ernte zu beschleunigen und maschinelle Erntemethoden zu ermöglichen. Die hybriden Industrietomaten lassen sich wesentlich leichter vom Stiel lösen als Speisetomaten. Tomatenmark ist überhaupt das erste genetisch veränderte Nahrungsmittel, das in Europa auf den Markt gebracht wurde. Es war die britische Supermarktkette Sainsbury’s, die zwischen 1996 und 1999 billiges Tomatenmark aus genmanipulierten Früchten verkaufte.
Dank ihrer dicken Haut kann die Industrietomate die Erschütterungen des Lkw-Transports und auch das Rütteln der Förderanlagen überstehen. Selbst die Tomaten am Boden eines Förderkorbs, auf denen das Gewicht anderer Tomaten lastet, zerplatzen in der Regel nicht. Die großen Saatguthersteller haben alles darangesetzt, den Wassergehalt der Industrietomate möglichst niedrig zu halten. Damit unterscheidet sie sich von den Tomaten im Supermarkt, die sich wegen ihrer wässrigen Beschaffenheit nicht für die Produktion von Tomatenmark eignen. Ein ökologischer Haken bei der Tomatenproduktion ist ihr absurd langer Wasserkreislauf: In trockenen Regionen wie Kalifornien, wo der Gouverneur 2014 den Dürrenotstand ausrufen musste, werden die Tomatenfelder massiv bewässert. Aber kaum in den Fabriken angekommen, wird der hohe Wassergehalt mittels Eindampfen drastisch reduziert, um eine kompakte Paste zu gewinnen.
Autor: Jean-Baptiste Malet ist Journalist und Autor von Das Tomatenimperium. Ein Lieblingsprodukt erklärt den globalen Kapitalismus, Köln (Eichborn) 2018.
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