Einstürzende Eisberge

Weitgehend ungerührt sieht die Menschheit den Polkappen beim Abschmelzen zu.

Es ist ein historischer Wendepunkt. Der Antarktisexperte und Potsdamer Klimawissenschaftler Anders Levermann spricht von einer neuen Ära für den Planeten, in der der Klimawandel irreversible Folgen zeige. Gleich ein halbes Dutzend Forschungsberichte bestätigen es: Die Eismassen des westantarktischen Eisschilds sind instabil geworden und haben einen sogenannten Kipppunkt überschritten. Damit ist ihr Abschmelzen zu einem Selbstläufer geworden – und vermutlich für die nächsten Jahrhunderte unumkehrbar. Wer die Bedeutung dieses Ereignisses erfassen will, muss sich die gigantischen Ausmaße der kontinentalen Eispanzer vergegenwärtigen.

Auf der Erde gibt es neben dem Meereis, das in der Arktis schwimmt, drei riesige Eisschilde an Land: den grönländischen, den west- und den ostantarktischen Eisschild. Diese kontinentalen Eisschilde bilden das Reservoir für 99 Prozent unseres Süßwassers. Allein die beiden antarktischen Eisschilde enthalten 30 Millionen Kubikkilometer Eis und erstrecken sich über 14 Millionen Quadratkilometer, das entspricht der Fläche der USA und Mexikos zusammen. Ihr komplettes Abschmelzen würde den Meeresspiegel um 58 Meter steigen lassen. Damit stellen die antarktischen Eismassen alle anderen Eisvorkommen auf unserem Planeten weit in den Schatten. 4 Kilometer hoch türmt sich das Eis an der dicksten Stelle in der Ostantarktis, im Mittel sind es 2 Kilometer. Seine Stabilität und Widerstandsfähigkeit ist für das Überleben der Küstenregionen auf der Erde entscheidend. Die jetzt abschmelzenden Gletscher in der westantarktischen Amundsenbucht, die sich, wie verschiedene Forschergruppen gezeigt haben, auf einem nicht mehr aufzuhaltenden Rückzug befinden, werden den Meeresspiegel um etwa 3 Meter erhöhen.

Für die Eisverluste in der Antarktis sind nicht die steigenden Lufttemperaturen verantwortlich, die auf die Oberfläche des Eises einwirken. Denn am kältesten Kontinent erreichen die Temperaturen trotz der Erderwärmung zu keiner Jahreszeit den Taupunkt. Sie können bis auf 60 bis 70 Grad minus absinken. Die bisher niedrigste Temperatur lag bei fast 100 Grad minus. Nur an den Rändern der Antarktis können in seltenen Fällen Plusgrade erreicht werden.

Das Eis am Nordpol taut gefährlich schnell

Das Eis am Nordpol taut gefährlich schnell
Photo: © Le Monde diplomatique

Anders als etwa in Grönland wird das Eis am Südpol aus schließ lich von unten durch relativ warme Meeresströmungen attackiert. An der sogenannten Aufsetzlinie, wo das Eis keine Landmasse mehr unter den Füßen hat, sondern im Meerwasser schwimmt, wird es angeknabbert und immer weiter zurückgedrängt. Dieser Prozess wirkt bei einer talwärts abfallenden Topografie der Landmassen selbstverstärkend, wie die Forscher betonen. Sie erklären es so: Wenn der Untergrund, auf dem das Eis aufliegt, sich unterhalb der Wasserlinie befindet, und ins Landesinnere hinein abfällt, verliert das Eis gewissermaßen den Boden unter den Füßen. Die Angriffsfläche, auf der die Eismassen Kontakt mit dem »warmen« Meerwasser haben, wird immer größer. Je dicker das Eis an der Aufsetzlinie ist, desto mehr kann ausfließen.

Aber kaum jemand regt sich auf. Selbst die Umweltverbände scheint diese Katastrophe wenig zu interessieren. Weil sich die Eisverluste und der damit verbundene Anstieg des Meeresspiegels als schleichender Prozess über Jahrhunderte hinziehen und weil sie im Detail schwer zu erklären und zu verstehen sind, fielen die öffentlichen Reaktionen zum kollabierenden Eisschild eher zurückhaltend aus; sie waren außerhalb der Umwelt- und Klimaszene kaum wahrnehmbar. Umso alarmierter sind einige Wissenschaftler. Auf der Suche nach einem Ausweg zur Stabilisierung des Meeresspiegelanstiegs wagen sie sich jenseits von Denkverboten auch an irrwitzig erscheinende Rettungsprojekte heran. So sorgte die Idee eines Megaprojekts des Geoengineerings zuletzt für Aufregung.

Nordpolarmeer bald eisfrei

Nordpolarmeer bald eisfrei © Le Monde diplomatique

Anstieg des Meeresspiegels stoppen

Um den Anstieg des Meeresspiegels zu stoppen, hatte eine Arbeitsgruppe am Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung untersucht, ob es möglich wäre, in der Antarktis im großen Stil Meerwasser auf den Eisschild zurückzupumpen. Das abgeschmolzene Wasser könnte auf diese Weise »eingefroren« werden. Zehntausende vor Ort installierte Windräder müssten die Energie liefern, um die gewaltigen Wassermassen mindestens 700 Kilometer weit ins Innere der antarktischen Eiswüste zu transportieren. 90 riesige Pumpen – die größten, die weltweit in Betrieb sind – müssten das Wasser zuerst mehrere Kilometer hoch und dann weit ins Zentrum des eisigen Kontinents befördern. Dort, auf den kältesten Landmassen der Erde, würde das Wasser schnell vereisen und wäre für tausend Jahre sicher konserviert.
Für die Potsdamer Klimaforscher Levermann, Katja Frieler und weitere MitautorInnen der Studie ist diese Idee vor allem ein Ausdruck großer Sorge. Dem Physikprofessor Levermann, ein Kritiker des Geoengineerings, ist angesichts des monströs anmutenden Technologieabenteuers ziemlich unwohl zumute: Wasser auf die Antarktis zu pumpen, das komme einem erst einmal sehr verrückt vor, sagt er. Wenn man länger darüber nachdenke, erscheine es einem nicht mehr so verrückt. Und wenn man noch länger nachdenke, wieder ein bisschen verrückter.

Ein wenig erinnert die Idee an die wilden Fantasien des vergangenen Jahrhunderts, die Sahara zu begrünen oder Teile des Mittelmeers trockenzulegen. Levermann weiß, dass die Realisierung eines solchen Projekts ein großer, ja kolossaler Eingriff in das antarktische Ökosystem wäre. Doch der Anstieg des Meeres spiegels, so argumentiert er, würde vermutlich sehr viel größere Zerstörungen in den stark bevölkerten Küstenregionen rund um den Globus anrichten. Deshalb erscheint es ihm legitim, über eine solch globale Schutzmaßnahme nachzudenken. Sie wäre nicht mehr und nicht weniger als der Einstieg in das Management des Meeresspiegels durch den Menschen.

In der Studie wird in groben Abschätzungen die Machbarkeit eines solchen Rettungsplans untersucht. Die Antwort: Ja, aber! Es wäre möglich, Wasser ins Herz der Antarktis zu pumpen – allerdings wäre dies nur eine Verzögerung und keine Lösung für den globalen Meeresspiegelanstieg. Zudem wäre ein kaum realisierbarer technischer, energetischer und finanzieller Aufwand erforderlich. Allein die dafür nötige Energiemenge beliefe sich auf rund 10 Prozent des derzeitigen weltweiten Verbrauchs. Bei klirrendem Frost wären Mensch und Material extremen Belastungen ausgesetzt. Normale Windräder, wie sie bei uns gebaut werden, könnten am Südpol kaum installiert werden. Der spektakuläre Rettungsplan hat immerhin dafür gesorgt, das schmelzende Polareis wieder stärker ins Bewusstsein zu rücken.

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Gestörte Eisbildung in der Arktis

Gestörte Eisbildung in der Arktis © Le Monde diplomatique

Größe der Aufgabe der Weltgemeinschaft

Und er zeigt zugleich die Größe der Aufgabe, die mit den Klimaveränderungen auf die Weltgemeinschaft zukommt. Um eine horrende Erderwärmung um 3 oder 4 Grad zu verhindern, muss der CO²-Ausstoß in den nächsten Jahren nicht nur kräftig zurückgeschraubt werden. Er muss ganz weg, also auf null reduziert werden und dies auch noch in möglichst hohem Tempo. Die fossilen Energieträger Kohle, Öl und Gas müssen dann komplett aus der Energieerzeugung verschwinden und dürfen nicht mehr verbrannt werden. Nur so kann das Abschmelzen der Eismassen – irgendwann in einigen hundert oder tausend Jahren – gestoppt werden.

Heute lassen sich das Ausmaß der Eisverluste an den Polen und das Tempo der Schmelzprozesse trotz einiger Unsicherheiten relativ gut messen. Wie ein im Juni 2018 im Wissenschaftsmagazin Nature veröffentlichter Forschungsbericht zeigt, verlor die Antarktis im Zeitraum zwischen 2012 und 2017 jedes Jahr 219 Milliarden Tonnen Eis. Das ist fast dreimal so viel wie im Zeitraum von 1992 bis 2011, als jährlich nur 76 Milliarden Tonnen abschmolzen. Allein in der Westantarktis erhöhten sich die abschmelzenden Massen von 53 Milliarden auf 159 Milliarden Tonnen jährlich.

Schon in den 1970er Jahren war der Wackelkandidat Westantarktis ein Thema der Klimawissenschaft. US-Forscher John Mercer schrieb 1978 in Nature in weiser Voraussicht, der Verlust des westantarktischen Eisschilds wäre wahrscheinlich die erste desaströse Folge der weiteren Nutzung fossiler Brennstoffe. Mercer erinnerte in seinem Beitrag an historische Warmzeiten, denen der Eisschild vor etwa 120.000 Jahren schon einmal zum Opfer gefallen war. Damals soll der Meeresspiegel deshalb 5 bis 10 Meter höher gewesen sein.

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Zu warmes Wasser im Südpolarmeer

Zu warmes Wasser im Südpolarmeer © Le Monde diplomatique

Ganze Städte drohen zu versinken

Ganze Städte drohen zu versinken © Le Monde diplomatique

Östliche Teil des Südpols stabiler

Zum Glück zeigt sich der östliche Teil des Südpols insgesamt deutlich stabiler. Bis 2011 hatten die Eismassen in der Ostantarktis noch leicht zugelegt. Dann kam es zu einer Trendwende. In den vergangenen fünf Jahren wurden von den Forschern erstmals Verluste von durchschnittlich 28 Milliarden Tonnen Eis ermittelt. Je stärker sich die Welt aufheize, desto größer sei unweigerlich die Gefahr, dass auch andere Teile der Antarktis einen ähnlichen Kipppunkt erreichen, sagt Antarktisexperte Levermann. Konkret nennt er das Wilkesbecken in der Ostantarktis oder das Aurora becken, die ähnlich anfällig sein könnten für einen unaufhaltsamen Eis verlust wie die jetzt abschmelzenden Gebiete der Westantarktis.

Der Meeresspiegelanstieg durch das geschmolzene Antarktiseis fällt mit 7,6 Millimeter für die 25 Jahre von 1992 bis 2017 auf den ersten Blick noch moderat aus. Doch mit der Beschleunigung der Eisverluste wird auch der Meeresspiegel künftig schneller steigen als bisher. Die Folgen reichen weit in die Zukunft. So entscheiden die heutigen Generationen, wie die Küstenlinien in 2000 oder 3000 Jahren verlaufen werden. Denn der noch immer nicht nachhaltig abgebremste Ausstoß des globalen Kohlendioxids nimmt die Erde künftig noch stärker in den Schwitzkasten. Klimawissenschaftler Levermann wagt einen Vergleich mit der Antike: So wie wir uns heute nach zweitausend Jahren an deren Kulturleistungen erinnern, so würden kommende Generationen an uns denken – als diejenigen, die den Anstieg der Weltmeere ausgelöst haben.

Nicht nur die Antarktis, auch die Arktis sorgte in den vergangenen Jahrzehnten immer wieder für Alarmmeldungen und erstaunliche Negativrekorde. Damit haben sich die beiden Pole zu Seismografen und einem Frühwarnsystem für die Klimaveränderung entwickelt. Nirgendwo sonst ist die Erdüberhitzung deutlicher zu spüren als an den beiden Polen. Während die Antarktis der wichtigste Treiber für den Meeresspiegelanstieg ist, hat das schmelzende Meereis in der Arktis keinen Einfluss auf die Meereshöhe. Denn das im Wasser schwimmende Eis verdrängt ein Volumen von gleicher Größe.
In der Arktis stieg die Temperatur in den letzten Jahrzehnten doppelt bis dreimal so schnell wie auf der übrigen Erdkugel. Und das Verschwinden des Eises vollzieht sich am Nordpol noch spektakulärer als am Südpol. Denn die Eismassen ziehen sich im Sommer jedes Jahr gut sichtbar immer weiter zurück und bringen immer größere Flächen dunklen Meerwassers zum Vorschein. So kann die Vergänglichkeit des vermeintlich ewigen Eises aus der Vogelperspektive genau beobachtet und gemessen werden. Auch am Nordpol ist ein sich selbst verstärkender Prozess in Gang gekommen. Denn der Schwund des Meereises beschleunigt zugleich die Erwärmung, die wiederum auf die Arktis zurückwirkt und mehr Eis abschmelzen lässt. Die Eismassen sind ein riesiger Reflektor, sie werfen einen großen Teil der Sonneneinstrahlung zurück ins All. Wenn im Sommer immer größere Eisflächen abschmelzen, dann fehlt dieser Spiegel. Der unter dem Eis liegende Ozean kann die Wärme der Sonne dagegen perfekt aufnehmen und speichern.

Wissenschaftler können sowohl das einfallende als auch das reflektierte Sonnenlicht präzise messen. Dividiert man Reflexion durch Lichteinfall, erhält man als physikalische Größe die »Albedo« genannte Reflexionskraft. Die Erde hat eine durchschnittliche Albedo von 0,3. Schneebedeckte Eisflächen erzielen einen Spitzenwert von bis zu 0,9. Die Albedo von Meerwasser beträgt dagegen mickrige 0,07, das ist die niedrigste Albedo aller Stoffe. Durch die Schmelzprozesse in der Arktis wird also der beste aller Reflektoren durch den schlechtesten ersetzt. Die Folge: Je mehr Eisflächen verschwinden, desto schneller erwärmt sich die Arktis.

Unter dem Eis das Öl

Unter dem Eis das Öl © Le Monde diplomatique

Messdaten zum Rückzug der arktischen Eismassen

Immerhin ist die Buchführung dieses Eisinfarkts beinahe mustergültig. Mehrmals im Jahr liefern Forschergruppen Satelliten bilder und Messdaten zum Rückzug der arktischen Eismassen. Seit 1979, dem Beginn der Satellitenüberwachung, zeigt die Kurve mit fast naturgesetzlicher Konstanz nach unten. Nach einer Bestandsaufnahme durch US-Experten des National Snow and Ice Data Center bedeckte das arktische Meereis im September 2018, also am Ende des arktischen Sommers, eine Fläche von 4,71 Millionen Quadratkilometern. Ab Oktober nimmt die Eisfläche wieder zu. Die Wende Ende September ist deshalb ein idealer Messzeitpunkt, weil die Eisfläche dann ihr Minimum erreicht hat und damit den Wert, der als Dauereisfläche des jeweiligen Jahres gilt. 1979, vor vierzig Jahren, war sie noch 6,9 Millionen Quadratkilometer groß. In den Jahren von 1970 bis 2018 ging die Eis fläche nach Angaben des NSIDC im Schnitt um jährlich 12,8 Prozent zurück. Hält der Trend an, könnte das Meereis, so die Prognose des Weltklimaberichts, schon in 22 Jahren im Sommer komplett geschmolzen und die Arktis damit eisfrei sein.
Das Messergebnis vom September 2018 belegt in der Negativ tabelle zwar nur den sechsten Platz seit 1979. Doch der Wert liegt immer noch mittendrin im abwärts gerichteten Trendkanal. Zudem hatte das Meereis im Januar und Februar 2018 die für diese beiden Monate niedrigste Ausdehnung seit Beginn der Satellitenmessungen erreicht.
Ein besonders aufregendes Jahr für die Polarforscher war 2016. Der am Nordpol seit Jahrtausenden bestehende Rhythmus zwischen schmelzenden und sich neu bildenden Eismassen wurde jäh unterbrochen. Die Temperatur lag in diesem Jahr im Mittel um 3,5 Grad höher als im Jahr 1900 und um 2 Grad über dem Mittelwert der Jahre 1981 bis 2010. Die böse Überraschung, die viele Experten fassungslos machte, kam im November. Nach dem Ende des arktischen Sommers ist dies der zweite Monat, in dem die Eisdecke kräftig zulegt. Doch 2016 blieb diese Vergrößerung im November nicht nur aus, die Eisfläche taute sogar und ging bei Temperaturen, die um bis zu 20 Grad über dem langjährigen Durchschnitt lagen, über mehrere Tage leicht zurück. Das hatte es noch nie gegeben, seit die Wissenschaftler ihre Daten sammeln.
Trotz dieser dramatischen Entwicklungen hat auch die Arktis eine eher bescheidene Medienpräsenz. Im täglichen Nachrichtengewitter von neuen sozialen und alten Medien erzielen die regelmäßigen Messdaten vom schmelzenden Eis zunehmend weniger Aufmerksamkeit. Die Öffentlichkeit sieht den Polkappen weitgehend ungerührt beim Abschmelzen zu, auch wenn die ins Meer stürzenden Eisberge weiterhin das ständig wiederkehrende Sinnbild des Klimawandels sind.

Autor: Manfred Kriener ist Umweltjournalist in Berlin.

Mehr Informationen zum Thema:

Weltweiter Kommunalverband für nachhaltige Entwicklung

Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie

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