Seit Jahren gibt es keinen EU-Staat, der zu Beginn seiner turnusmäßigen EU-Ratspräsidentschaft nicht verkünden würde, in den folgenden Monaten die ausstehende Reform des europäischen Asylsystems zu Ende zu bringen. Flüchtlingsschutz, dessen Finanzierung, die Umverteilung Ankommender – die Liste der Streitpunkte ist lang. Die EU ist in der Migrationsfrage so gespalten wie kaum irgendwo sonst. Mit einer Ausnahme: Darauf, die Flüchtlinge möglichst schon in Afrika aufzuhalten, können sich alle Mitgliedstaaten einigen. Die Grenzschutzpolitik der EU konzentriert sich deshalb heute vor allem auf den Transitraum. Entsprechend wichtig ist für die europäische Innenpolitik – vor allem seitdem im Sommer 2015 die Balkanroute massenhaft genutzt wurde – die Diplomatie mit dem südlichen Nachbarkontinent geworden.
Worum es dabei geht, zeigte sich etwa beim Besuch des ägyptischen Militärmachthabers Abdel Fattah al-Sisi im November 2018 in Berlin. Kaum ein Nachbarstaat der EU hat eine katastrophalere Menschenrechtsbilanz als das Land am Nil. Bundeskanzlerin Angela Merkel lobte den General dennoch: Ägypten sichere seine Seegrenzen exzellent. In Ägypten leben rund 300.000 Flüchtlinge aus Ostafrika und dem Nahen Osten. Dass es de facto keine Migration aus Ägypten nach Europa gibt, war Merkel »hohe Anerkennung wert« – und einen ungebundenen Kredit von 500 Millionen Euro.
Das ist die wichtigste Komponente der europäischen Migrationsdiplomatie: Geld für jene, die Flüchtlinge aufhalten. Sudan, Niger, die Türkei, Senegal, Marokko – sie alle können sich über Zuwendungen in Millionen- oder, wie im Fall Nigers, Milliardenhöhe freuen, weil sie Fluchtrouten nach Europa schließen.
Die drei Strategien dieser Politik zeigen sich unter anderem in der Verwendung des »EU-Nothilfefonds für Afrika«, eines mit etwa 4,2 Milliarden Euro (Stand Januar 2019) ausgestatteten Fonds, den die EU 2015 neu aufgelegt hat.
Erstens sind dies Maßnahmen zur Bekämpfung von »Fluchtursachen« in Form klassischer Entwicklungshilfe, die aber verstärkt den Transitländern zugutekommen – etwa eine Wasseraufbereitungsanlage im Tschad. Sie gehen damit zulasten weiter entfernt liegender Regionen, die mittelfristig weniger Hilfe bekommen. Zweitens die Versorgung der Flüchtlinge vor Ort, um zu verhindern, dass sie Richtung Europa weiterziehen. Drittens sind es – umstrittene – Maßnahmen der sogenannten Ertüchtigung. Im November 2018 etwa verkündeten die Niederlande und Deutschland, eine von ihnen bezahlte mobile Grenzschutztruppe im Süden Nigers aufzubauen. Sie soll Migrant*innen aus dem Norden Nigerias aufhalten, die womöglich auf dem Weg nach Europa sind. 2017 hatte Niger bereits 1 Milliarde Euro von der EU zugesagt bekommen, nachdem die Armee begonnen hatte, Fahrer zu verhaften, die Migranten aus Agadez nach Libyen fuhren. Deutschland lieferte damals über das Eucap-Sahel-Programm hunderte Fahrzeuge für die nigirische Grenzpolizei. Das UN-Flüchtlingswerk UNHCR geht davon aus, dass heute in der Sahara mehr Menschen als im Mittelmeer sterben – auch weil die Schlepper aus Angst vor Polizei und Armee weitab von regulären Pisten durch die Wüste fahren müssen.
Neben Polizisten werden auch immer mehr Soldaten für das Grenzregime eingesetzt. 2017 nahm die multinationale Militärtruppe G5 Sahel Joint Force ihre Arbeit auf. Die von der EU mit über 100 Millionen Euro geförderte, trainierte und ausgestattete Einheit soll vor allem das knappe Dutzend dschihadistischer Gruppen im Sahel bekämpfen. Ihre zweite Aufgabe ist die Verfolgung von »organisierter Kriminalität« und »Menschenhandel« – de facto fungiert sie also auch als Grenzschutztruppe.
Im September 2018 wurde bekannt, dass Angehörige der 5000-köpfigen Truppe in Mali Zivilisten getötet haben. Im Sudan, gegen dessen früheren Präsidenten Omar al-Bashir seit 2008 ein Haftbefehl des Internationalen Strafgerichtshofs wegen Völkermords, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen im Darfur-Konflikt vorliegt, trainiert die deutsche Entwicklungsagentur GIZ im Auftrag der EU die Grenzpolizei. Und im Nachbarland Eritrea, wo Isayas Afewerki seit 1993 mit eiserner Hand regiert und eine Militärdiktatur errichtet hat, bildet sie Amtsrichter und Staatsanwälte aus, um effektiver gegen Schlepper vorzugehen.
Auch die im September 2016 als Europäische Agentur für die Grenz- und Küstenwache EBCG (European Border and Coast Guard) – der Name Frontex wurde parallel beibehalten – neu konstituierte Behörde ist längst in Afrika aktiv. Für den Frontex-Direktor Fabrice Leggeri ist die Zusammenarbeit mit den Herkunfts- und Transitländern ein »Schlüsselelement erfolgreichen Migrationsmanagements«. Mit 19 Staaten hat Frontex sogenannte Arbeitsabkommen geschlossen. Die erlauben es der Agentur, mit den Behörden der einzelnen Länder zusammenzuarbeiten, Beamte und Daten auszutauschen und gemeinsame technische Standards festzulegen. Zum Teil können EU-Grenzer auch Vorortkontrollen durchführen, etwa in Mazedonien, Albanien oder im Senegal. Bei der Zusammenarbeit mit sogenannten Drittstaaten – Staaten, die nicht zur EU gehören – will Frontex laut einem internen Planungsdokument ihr »Mandat voll ausschöpfen« und sich »auf dem Gebiet der Außenpolitik engagieren«: Grenzschützer als Diplomaten. Ein Kern dieses neuen Mandats sind »gemeinsame Operationen auf dem Territorium von Drittstaaten«.
Neben Kontrollen zählt hierzu vor allem auch das Sammeln von Informationen. Dafür hat Frontex insgesamt vier sogenannte Risikoanalyse-Netzwerke mit Ländern außerhalb der EU aufgebaut – für Osteuropa, für den Balkan, für die Türkei und das größte aber für Afrika: die Afrika-Frontex Intelligence Community (Afic), ein Club von Geheimdiensten aus über 20 Staaten, von Marokko über Dschibuti bis Angola. Sieben weitere Staaten, darunter die Diktaturen Eritrea und Sudan, haben »Beobachter«-Status. Insgesamt macht mehr als der halbe afrikanische Kontinent beim »Intelligence Sharing im Bereich der Grenzsicherung« mit, wie Frontex Afic etwas umständlich nennt. Dafür werden auch Regime mit an den Tisch geholt, die mit ihrer Politik dafür verantwortlich sind, dass Menschen flüchten. Schließlich gilt auch in Afrika: Je weniger ein Staat sich um Grund- und Menschenrechte schert, desto wichtiger ist der Geheimdienst als Stütze der Macht. Frontex erhält von den autoritären Staaten jedoch nicht nur systematisch Informationen, sondern unterstützt sie auch dabei, ihrerseits Zugang zum Geheimdienstwissen anderer Staaten Afrikas zu erlangen.
Trotzdem erreichen immer noch viele Flüchtlinge das Mittelmeer. Was mit ihnen geschehen soll, ist offen. Die italienische M5S-Lega-Regierung hat gleich nach ihrem Amtsantritt im Juni 2018 unmissverständlich klargemacht, dass sie die eigenen Häfen für Flüchtlinge geschlossen hält. Die EU legte daraufhin ein Konzept für sogenannte regionale Ausschiffungsplattformen vor. Gemeint ist: Länder außerhalb der EU sollen dafür bezahlt werden, dass die Rettungsschiffe mit den Flüchtlingen ihre Häfen anlaufen dürfen. Gedacht ist dabei unter anderem an Tunesien. Doch bislang ist kein Nachbar der EU geneigt, eine solche Ausschiffungsplattform zu werden.
Die EU hätte das Problem am liebsten schon 2015 entschärft, indem sie in dem vom Bürgerkrieg gezeichneten Libyen eingegriffen (das heißt Stellungen angegriffen und wenn nötig Verhaftungen vorgenommen) und die als Schleppernetzwerke fungierenden Milizen zerschlagen hätte. Doch für eine solche Mission fand sich in Libyen keine politische Unterstützung. Lange war es für die EU ein Tabu, Flüchtlinge nach Libyen zurückzuschicken. Die Zustände in den dortigen Flüchtlingslagern hatten selbst deutsche Diplomaten 2017 als »KZ-ähnlich« beschrieben. Nachdem aber Italien mehr Druck machte und kein anderer EU-Staat ihm Flüchtlinge abnehmen wollte, änderte die EU ihren Kurs. Seit dem Sommer 2017 fängt sie nun eine von der EU trainierte und ausgestattete »Küstenwache« vor der libyschen Küste ein und bringt sie zurück an Land, wo sie erneut interniert werden. So ist es mindestens 30.000 Menschen zwischen Mitte 2017 und Ende 2018 ergangen.
Die EU finanziert eine Mission der UN-Migrationsagentur IOM, die seit 2017 Flüchtlinge aus Libyen evakuiert und mit Charterflügen von Tripolis aus in ihre jeweiligen Herkunftsländer zurückfliegt. Auf diese Weise entkommen die Betroffenen zwar den grauenvollen Lagern, aber sie landen oft hochverschuldet in den Hauptstädten ihrer Länder und können deshalb nicht in ihre Dörfer zurückkehren. Außerdem kann die IOM niemanden aus Libyen evakuieren, der aus einem Land stammt, in dem Krieg oder eine Diktatur herrscht, wie zum Beispiel in Somalia oder Eritrea. Solche Fälle werden seit Mitte 2018 aus Libyen in den Niger geflogen. Die dortige Regierung wird von der EU großzügig unterstützt, um die evakuierten Flüchtlinge in einem Lager in der nigrischen Hauptstadt Niamey zeitweilig unterzubringen. Dort sollen sie warten, bis sie nach Europa ausreisen können. Doch kaum ein Staat ist bereit, sie aufzunehmen.
Autor: Christian Jakob ist taz-Redakteur im Ressort Reportage und Recherche.
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